Herr, höre meine Stimme – Stimmen aus dem Katharinenhof Großhennersdorf

EVANGELISCHE STIFTUNG StimmenEvangelische Stiftung Diakoniewerk Oberlausitz (Hrsg.)

Festschrift anlässlich des 300-jährigen Bestehens des Katharinenhofs Großhennersdorf [2021] Redaktion: Michaela Formann, Susanne Herrmann, Hans-Georg Matthes, Bettina Westfeld 

Gustav Winter Druckerei und Verlagsgesellschaft, Herrnhut, 2021, 240 Seiten, broschiert, 18,00 € (zzgl. 3,50 € Versand), ISBN 978-3-9811795-5-2

 

Im Jahre 2021 konnte der Katharinenhof Großhennersdorf, ein soziales und kulturelles Zentrum für Menschen mit Behinderung in der Oberlausitz, sein 300-jähriges Bestehen feiern. Anlässlich des bedeutenden Jubiläums legte die Evangelische Stiftung Diakoniewerk berlausitz (https://diakoniewerk-oberlausitz.de), in deren Trägerschaft sich die Einrichtung seit 30 Jahren befindet, diese Festschrift vor, die – worauf der Untertitel treffend hinweist – eine Vielzahl von „Stimmen aus dem Katharinenhof Großhennersdorf“ präsentiert.

Zur Bedeutung und Intention der 240 Seiten umfassenden Veröffentlichung schreibt das Redaktionsteam Michaela Formann, Susanne Herrmann, Hans-Georg Matthes und Bettina Westfeld einleitend: „Diese Festschrift will ganz verschiedenen Stimmen Gehör verschaffen, den fröhlichen und traurigen gleichermaßen und den ungehörten im Besonderen. […] Wir tauchen ein in vergangene Zeiten, setzen uns mit verschiedenen Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit gegensätzlichen Ansichten auseinander und schreiben die Festschriften von 1971 ‚250 Jahre Katharinenhof Großhennersdorf‘ und 1996 ‚Katharinenhof – Beiträge zum Weg einer diakonischen Einrichtung seit 1721‘ fort“ (S. 21).

Die Festschrift erzähle an vielen verschiedenen Beispielen durch viele einzigartige Stimmen, so die Mitarbeitende des Diakoniewerks Oberlausitz und eine Historikerin, wie der ursprüngliche Wunsch von Henriette Sophie Freiin von Gersdorff, sich im Katharinenhof für Menschen einzusetzen, die unserer Fürsorge und Liebe am meisten bedürfen, 300 Jahre lang mit Leben erfüllt wurde. Dabei sei bei Weitem nicht alles gut gewesen. Doch immer wieder sei neu Gutes geworden. Unter dem Segen Gottes, mit der Kraft, dem Engagement und der Liebe vieler Einzelner.

Die Darstellung gliedert sich in drei große Bereiche: „Vor und während der Zeit des Nationalsozialismus“, „Aus der Zeit der DDR“ und „Aus der Zeit nach der friedlichen Revolution“. Im ersten Bereich setzt sich zunächst Thomas Hörnig, Professor für Evangelische Theologie mit den Schwerpunkten Diakoniegeschichte und Diversity an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, mit Dr. med. Ewald Meltzer, der von 1901 bis 1939 als Anstaltsarzt den Katharinenhof leitete, „als „Grenzgänger zwischen Nächstenliebe und Eugenik, Apologetik und Zwangssterilisationen“ (S. 29-41) auseinander. Wie er hierbei zeigt, war der Katharinenhof unter Meltzers Leitung kein „Staat im Staate“, sondern vielmehr ein Ort der Zeitgeschichte und wissenschaftlichen Arbeit, mittendrin in problematischen Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Stichwort „Zwangssterilisationen“), gleichzeitig aber auch ein Ort fortschrittlicher heilpädagogischer Entwicklungen mit Strahlkraft für den gesamten deutschsprachigen Raum.

Sodann werden mit den „Erinnerungen des Obersekretärs Ulrich Werner Rink“ (S. 44-56) und den „Aufzeichnungen von Schwester Gertrud Oberlein“ (S. 58-65), die sich auf die 1930er Jahre beziehen, interessante Innenansichten aus dem Katharinenhof Großhennersdorf präsentiert, bevor die Opfer der „Euthanasie“ beziehungsweise deren nahe Angehörige, die den Krankenmord an Bruder oder Schwester als tiefen Einschnitt in ihrem Leben wahrnehmen, zu Wort kommen. Dabei erinnern sich die beiden Geschwister Jutta Lomas-Liebster und Heinrich Liebster unter der Überschrift „Familie Liebster in den Fängen von Werner Catel“ (S. 68-73) gemeinsam an ihren ältesten Bruder Wolfgang Liebster (Jahrgang 1933), der an den Folgen der „Medikamenteneuthanasie“ in Großschweidnitz 1943 verstarb. Ebenso wie bei ihnen wird berührend auch in den Erinnerungen von Alexandra von Gersdorff-Bultmann an ihre Schwester Helene (S. 74-79) deutlich, wie tief die menschenverachtenden „rassenhygienischen“ Maßnahmen in das Leben der Familien eingegriffen haben.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) zogen bereits 1945 die ersten Diakonissen wieder in den Katharinenhof ein. Sie wurden von der Diakonissenanstalt Dresden entsandt und begannen mit anderen Schwestern und Mitarbeiterinnen den mühevollen Wiederaufbau. Die zwölf Stationen im Katharinenhof wurden damals von neun Diakonissen und drei sogenannten Verbandsschwestern geleitet. Eine davon war die Diakonisse Gudrun Reichelt, die – zum Auftakt im zweiten Bereich („Aus der Zeit der DDR“) – unter der Überschrift „Die vier Jahre in Großhennersdorf waren meine schönsten Dienstjahre“ (S. 82-85) über ihre vierjährige Tätigkeit als Stationsschwester in den 1960er Jahren im Katharinenhof berichtet. Sie hatte zu dieser Zeit bereits ihre zweijährige Ausbildung zur Krankenpflegerin abgeschlossen und einige Jahre im Krankenhaus gearbeitet. Ihr Bericht ist ein wichtiges Dokument zum zeitgenössischen Berufs- und Arbeitsalltag der Diakonissen, in dem es etwa heißt: „Der Katharinenhof war mit vielen Kindern und Jugendlichen überbelegt. Es waren wohl 360 oder mehr in Sälen und Mehrbettzimmern untergebracht. Die hygienischen Verhältnisse waren an der Grenze des Möglichen! Ständig kämpften wir z. B. gegen Kakerlaken, die aus den Heizungsrohren kamen. Doch trotz aller Widrigkeiten, die sich durch die vorgegebenen Zustände ergaben, ich war sehr gern in Großhennersdorf und hatte die armen Kinder in mein Herz geschlossen“ (S. 85).

Nachdem Marlene Kempe, Sieglinde Schloßbauer und Ursula Hahnel, die im Kindesalter in den Katharinenhof gekommen waren, dort ihr Leben verbrachten und mittlerweile im Rentenalter sind, vom Wohnen, Arbeiten und Alt werden innerhalb der Mauern des Katharinenhofs erzählt haben (S. 86-93), wird das Arztehepaar Dr. Uta Elisabeth Trogisch und Dr. Jürgen Trogisch vorgestellt, in deren Händen die Verantwortung für rund 400 Menschen mit Behinderungen im Katharinenhof in den Jahren von 1971 bis 1990 lag (S. 95-111).

Mit Christa Mögel, Heidemarie Milde, Birgit Lorenz und Martina Weidner kommen vier langjährige Mitarbeiterinnen aus dem Heimalltag der DDR-, Wende- und Nachwendezeit (S. 112-129) zu Wort, wobei ihre Ausführungen stellvertretend für viele Frauen und Männer stehen können, die – persönlich bescheiden und für sie selbstverständlich – sehr viel zum positiven Bild des Katharinenhofs beigetragen haben. Weiter wird von der Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ (S. 132-139), der Ausbildung von Fachkräften in Großhennersdorf (S. 141-159) und Andreas Schönfelder, dem Begründer der Umweltbibliothek Großhennersdorf (S. 171-176), berichtet. Sodann erzählt Thomas Pilz von seinen Begegnungen mit dem Katharinenhof, seine langjährige Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und von den politischen Repressionen, die die DDR gegenüber Andersdenkenden ausübte (S. 177-183). 

Der dritte Abschnitt („Aus der Zeit nach der friedlichen Revolution“) thematisiert zunächst die „Entwicklung der Bildungslandschaft für Menschen mit Behinderungen“ (S. 186-194), bevor er „Projekte im Dreiländereck Tschechien – Polen – Deutschland“ (S. 196-201) und die Vielzahl der ehrenamtlich mitwirkenden Menschen im Katharinenhof vorstellt (S. 203-208). Schließlich wird auch die Gründung des Diakoniewerks Oberlausitz thematisiert (S. 209-215), ebenso wie die Arbeit der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“, die sich um die Anerkennung von erlittenem Leid und Unrecht in der DDR kümmert (S. 217-228).

Ergänzt wird die Darstellung durch einen chronologischen Überblick zur Geschichte des Katharinenhofs im Wandel der Zeit (S. 230-232) sowie – durchgehend im gesamten Buch zwischen den einzelnen Beiträgen verteilt – diverse Kurzberichte zur Fest- und Feierkultur im Katharinenhof in Vergangenheit und Gegenwart, sei es über Einweihungen von Neubauten oder nach Rekonstruktionen, die Eröffnung von Bereichen oder Abteilungen, Jubiläen, Namensgebungen von Häusern oder Ausflügen.

Die umfangreiche Veröffentlichung, im quadratischen Format, ist ansprechend gestaltet, wozu nicht zuletzt die durchgehende Illustration mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbabbildungen beiträgt. Hervorgehoben seien in diesem Zusammenhang auch die – stellvertretend für andere im Katharinenhof durch Frauen, Männer und Kinder entstande Werke – elf ganzseitig präsentierten Bilder (S. 6-17), ebenso wie die acht Radierungen des Malers und Grafikers Reinhard Springer, in denen er in den 1980er Jahren seine Begegnungen mit den Menschen im Katharinenhof als Pfleger während eines Diakonischen Jahrs künstlerisch verarbeitet hat (S. 160-170). Während die überwiegende Zahl der Abbildungen in ansprechender Größe wiedergegeben wird, hätte man sich in einigen wenigen Fällen, so auf den Seiten 48, 55, 58, 64 und 73, ein größeres Format gewünscht, weil darauf größere Personengruppen zu sehen sind, bei denen der Einzelne so jedoch nur schwer erkennbar ist.

Sieht man hiervon einmal ab, kann man der Evangelischen Stiftung Diakoniewerk Oberlausitz zu ihrer gelungenen Festschrift, die tiefe Einblicke in die Geschichte und Gegenwart der traditionsreichen Einrichtung für Menschen mit Behinderung in der Oberlausitz gewährt, umso mehr gratulieren, als es im digitalen Zeitalter für soziale Institutionen inzwischen längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist, anlässlich auch größerer Jubiläen eine entsprechende Veröffentlichung in gedruckter Form auf den Weg zu bringen.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling