Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert

diakonissen der ostschweit im zwanzigsten jahrhundertRegula Schär
Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert

TVZ Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018, kartoniert, 290 Seiten, 54,00 €, ISBN 978-3-290-18144-4

Die ersten Diakonissenhäuser entstanden in der Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts in Bern, Riehen, Basel und Zürich. Wie andere kirchliche Institutionen verfolgten sie gemeinnützige Ziele, für die sich der Staat damals noch nicht zuständig fühlte. So entstanden mit den Diakonissenhäusern oftmals auch Spitäler, wodurch sich die Gesundheitsversorgung einer Region erheblich verbesserte. Frauen, die in die entsprechenden Einrichtungen eintraten, wurden in der Krankenpflege ausgebildet und danach schweizweit in Spitäler, die Gemeindekrankenpflege, in Altenheime und auch in Kindergärten entsandt. In der Ostschweiz engagierten sich im 20. Jahrhundert so noch zehn evangelische Schwesterngemeinschaften in zahlreichen sozialen Institutionen. In den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Thurgau und St. Gallen gab es dabei insgesamt 174 Arbeitsorte, sogenannte Außenstationen, für Diakonissen. Sie pflegten in Spitälern, in der Gemeindekrankenpflege und in Altersheimen Kranke und Betagte oder betreuten in Kindergärten Kinder, wobei die Arbeitgeber private, weltliche oder kirchliche Krankenpflegevereine waren. Der Alltag der Diakonissen, ihre Religiosität und ihre soziale Bedeutung, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie von Regula Schär.

Für die Historikerin (Jahrgang 1972), die nach ihrem Studium in Bern in verschiedenen Archiven arbeitete und heute für eine Non-Profit-Organisation (NPO) in Bern tätig ist, war das Forschungsthema unterdessen nicht neu, verfasste sie doch bereits ihre (unveröffentlichte) Lizentiatsarbeit – unter der Überschrift „Der Wunsch Diakonisse zu werden schlummerte schon lange in mir“ – über „Die Diakonissen aus Riehen und ihr Mutterhaus von 1852 bis 1872“ (Bern 2008). Während sie dort den Zusammenhang zwischen der Eintrittsmotivation und der sozialen Herkunft Riehener Diakonissen während der Gründungszeit des Mutterhauses untersuchte, beleuchtet sie in der vorliegenden Arbeit mit einem kultur- und geschlechtergeschichtlichen Ansatz die religiösen Frauengemeinschaften im 20. Jahrhundert in der Ostschweiz, konkret die Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten in den evangelischen Schwesterngemeinschaften, die Kommunikationsstrukturen zwischen den Diakonissen und ihrem Mutterhaus sowie die diakonische Arbeit und das Netzwerk der Schwestern an ihren Arbeitsorten. Zudem richtet sie ihr Augenmerk auf den Wandel der traditionell in der Krankenpflege verankerten weiblichen Diakonie zu neuen Formen diakonischen Lebens.

Bei ihrer Untersuchung, die zwischen 2011 und 2014 im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts „Religiöse Frauengemeinschaften in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert“ entstanden ist, stützt die Autorin sich primär auf die Auswertung von Quellendokumenten – namentlich Protokolle, Jahresberichte, Korrespondenzen, Fotografien und Rundschreiben an die Schwesternschaften – aus zahlreichen Archiven der Diakonissenhäuser, die durch überlieferte Bestände in den Staats-, Gemeinde- und kirchlichen Archiven sowie persönliche Gespräche mit Diakonissen ihre Ergänzung finden.

Das knapp 300 Seiten starke Buch „Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert“ gliedert sich – entsprechend dem Erkenntnisinteresse von Regula Schär – nach Vorwort (S. 9 – 10) und Einleitung (S. 11 – 27) in die folgenden vier Kapitel: 1. Identität und Frömmigkeit (S. 29 – 111), 2. Führungskonzepte, Kommunikations- und Konfliktstrukturen (S. 113 – 180), 3. Netzwerke (S. 181 – 209) und 4. Wandel (S. 211 – 253), die durch eine Schlussbetrachtung (S. 255 – 259) sowie ein Verzeichnis der Außenstationen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert (S. 261 – 26), ein Abkürzungsverzeichnis (S. 267), Bildnachweis (S. 268 – 270) und Bibliografie (S. 271 – 290) ergänzt werden.

Wie die Autorin im ersten Kapitel („Identität und Frömmigkeit“) zeigt, wurden die Diakonissen nach den Vorgaben der 1861 erlassenen Kaiserswerther Grundordnung ausgebildet. Die Schweizer Diakonissenhäuser hätten, wie auch die Häuser, die nicht zur Kaiserwerther Generalkonferenz gehörten, die Organisationsstrukturen des Diakonissenhauses Kaiserswerth übernommen. Dabei sei die Kaiserswerther Grundordnung, die Statuten, die Haus- und Dienstordnungen, die den dreifachen Dienstauftrag der Schwesternschaft reglementierten und normierten, bis Ende der 1960er Jahre nahezu unverändert geblieben. Die Diakonisse habe sich in der hierarchischen Struktur des Mutterhauses und in der Schwesternschaft eingeordnet: „Für den Dienst am Nächsten verzichtete sie auf weltliche und persönliche Bedürfnisse, um mit der vollkommenen Hingabe an Jesus Christus zu dienen. Der Verzicht auf weltliche Bedürfnisse manifestierte sich in ihrem Leben nach den evangelischen Räten und in der Kleidung.“ Die Tracht habe dabei eine mehrfache Symbolkraft gehabt: „Sie symbolisierte Bescheidenheit, sie war ein öffentliches Bekenntnis des Glaubens, sie war ein kollektives Zeichen einer Schwesternschaft und glich innerhalb der Schwesternschaft die Standes- und Altersunterschiede aus.“ Die Zeichen der Gemeinsamkeiten wie Lieder, religiöse Literatur, das Einsegnungsritual oder die Nachrufkultur hätten die Diakonissentugenden wie Selbstlosigkeit, Gehorsam, Barmherzigkeit und Geduld im kollektiven Gedächtnis von Generation zu Generation implementiert: „Die Diakonissen identifizierten sich in ihrem Beruf mit ihrer Berufung. Ihr Handeln, ihr Denken und ihr Dienstverständnis war religiös begründet und ein täglicher Gottes-Dienst. Diesen Dienst konnten sie nur in den Strukturen des Diakonissenhauses und der Schwesternschaft leben“ (S. 111).

Wie die Analyse der „Führungskonzepte, Kommunikations- und Konfliktstrukturen“ im zweiten Kapitel verdeutlicht, blieben die Diakonissen in den Ostschweizer Außenstationen „Kinder des Mutterhauses“, indem die Vorsteher und Oberschwestern der Diakonissenhäuser auch in den Außenstationen, außer bei ärztlichen Verordnungen oder anderen beruflichen Bestimmungen, die direkten Vorgesetzten der Schwestern blieben. Bei Konflikten hinsichtlich divergierender Erwartungshaltungen zwischen den Diakonissen und den Vertretern in den Außenstationen trat das Mutterhaus als Mediator auf. Die Diakonissenhäuser hätten dabei zwar die misslichen Arbeitssituationen der Diakonissen anerkannt und sie mit Worten unterstützt, nicht aber mit Taten. So habe etwa der Schwesternmangel immer wieder eine Verbesserung der Personalpolitik verhindert. Gerade wenn es darum ging, dass katholische Schwestern anstelle der Diakonissen eine Außenstation übernehmen sollten, seien die Diakonissen trotz den widrigsten Arbeitsbedingungen auf den Stationen belassen worden. Wenngleich die Diakonissen „gehorsam, demütig und selbstlos“ in der Ostschweiz arbeiteten, seien sie „keineswegs unmündig, unterwürfig und willenlos“ gewesen: „Im Alltag brachten sie ihren Standpunkt ein, sie organisierten ihre Arbeit selber, sie führten Spitalbetriebe, sie fuhren Velo [Fahrrad], Motorrad oder Auto, sie lebten alleine in einer Wohnung, sie versorgten Kinder in den Kleinkinderschulen, sie vertraten den reformierten Glauben in atheistischen Stuben und gegenüber katholischen Schwestern“ (S. 178).

Da die Diakonissen in der Ostschweiz in der Ortsgemeinde oder im Spital lebten, geht es im dritten Kapitel („Netzwerke“) um die Frage, welche diakonischen Arbeiten sie außerhalb ihrer Hauptarbeitsgebiete übernahmen, welches Beziehungsnetzwerk die Diakonissen zur Bevölkerung pflegten und ob sie akzeptierte Mitglieder der Gemeinde waren. Wie Regula Schär nachweist, waren die Diakonissen in der Ostschweiz mit ihrer Arbeit in das Gemeindeleben integriert und akzeptiert, wobei die gepflegten Beziehungen und ihr Netzwerk durch die Arbeit und ihr sozial-diakonisches Verständnis vorgegeben gewesen sei. Neben der Krankenpflege oder der Arbeit in Kindergärten und -schulen habe das Engagement bei mittellosen Bürgern oder die Generationenarbeit den Alltag geprägt. Da die Arbeit mit jungen Frauen das effektivste Mittel für die Nachwuchsrekrutierung war, hätten die Diakonissen dafür viel Zeit investiert. Eine Verbindung der Diakonissen zur Frauenbewegung konnte die Autorin in der Ostschweiz nicht nachweisen; innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung sei der Diakonissenberuf aber ein anerkannter Beruf gewesen. Insgesamt sei das Netzwerk, das die Diakonissen in der Ostschweiz pflegten, von ihrem Beruf geprägt gewesen: „Die Arbeit war ein 24-Stunden-Gottesdienst für den Nächsten. Daneben blieb wenig Zeit, die die Diakonissen für ihre Stärkung in christlicher Gemeinschaft mit Mitschwestern verbrachten“ (S. 209).

Über 130 Jahre lang, zwischen 1836 – dem Gründungsjahr der Diakonissenanstalt Kaiserswerth durch Theodor und Friederike Fliedner – bis Ende der 1960er Jahre, hielten die Diakonissenhäuser in einer veränderten Gesellschaft an ihren ursprünglichen Leitbildern und Arbeitsfeldern weltweit und in der Ostschweiz fest, bevor die Reorganisation der „Kaiserwerther Grundordnung“ 1971 zur „Kaiserwerther Rahmenordnung“ eine individuellere Entwicklung der einzelnen Diakonissengemeinschaften ermöglichte. Wie Regula Schär im vierten Kapitel („Wandel“) darlegt, wurde Ende der 1960er Jahre der Schwesternmangel in den Diakonissenhäusern akut, wobei ein Rückzug der Diakonissen aus den Außenstationen und die Konzentration der Arbeitskräfte in den Betrieben der Diakonissenhäuser die einzige gangbare Lösung war. Mit der steigenden Überalterung der Schwestern hätten die Diakonissenhäuser freies Personal engagieren oder die Betriebe verkaufen müssen: „Der Wandel in der Arbeitswelt hatte Auswirkungen auf die Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft der Schweizer Diakonissengemeinschaften. Nicht mehr die Arbeits-, sondern die Glaubensgemeinschaft, in der die Spiritualität und das Gemeinschaftsleben im Vordergrund standen, prägten das Leben der Schwesternschaften“ (S. 253). Am Dienstauftrag der Diakonisse habe diese Verschiebung, außer dass sie keine Ausbildung mehr als Krankenschwester erhielt, aber nichts geändert. Noch heute sei die Diakonisse eine Dienerin des Herrn, die um seinetwillen den Dienst am Nächsten tut – meist nicht mehr am Kranken, sondern an den Hilfesuchenden oder sozial Schwachen.

Aufgrund ihrer Untersuchung über das Wirken der Diakonissen bis Ende der 1960er Jahre in Ostschweizer Spitälern, der Gemeindekrankenpflege, Altersheimen und Kindergärten hält die Autorin in ihrer Schlussbetrachtung fest, dass die Diakonissen in der Bevölkerung „anerkannte Berufsfrauen und Seelsorgerinnen“ waren, deren Arbeitsalltag „von harter, erschöpfender Arbeit“ geprägt war. Überall habe Personalmangel geherrscht und gerade die Spitalbetriebe hätten nur durch die pausenlose Arbeit der Diakonissen aufrechterhalten werden können. Der gravierende Nachwuchsmangel, hervorgerufen durch die gesellschaftlichen Veränderungen, das neue Frauenbild und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen der Nachkriegszeit, habe Ende der 1960er Jahre die Diakonissenhäuser zum Rückzug der Diakonissen aus der Ostschweiz und zum Wandel gezwungen. Die Diakonissenhäuser hätten sich dabei zu Kommunitäten gewandelt, „in denen die Schwesternschaft Trägerin ist, oder zu Diakoniewerken, in denen Stiftungen den diakonischen Auftrag im Sinne der Diakonissen weiterführen“ (S. 256).

Das Buch „Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert“ wird durch 65 Schwarzweißabbildungen aus dem Leben und Arbeitsalltag der Diakonissen illustriert. Ihre Wiedergabe ist umso mehr zu begrüßen, als es an der Veröffentlichung entsprechender Darstellungen mangelt. Einige dieser pflegehistorisch interessanten Dokumente, insbesondere die Abbildungen auf den Seiten 116, 117, 120, 121 und 147, werden jedoch sehr klein wiedergegeben, wodurch ihr Aussagewert leidet.

Die Darstellung verfügt über einen soliden Anmerkungsapparat mit mehr als 700 Fußnoten, die neben Quellenbelegen immer wieder auch weiterführende Hinweise enthalten, wodurch einzelne Aspekte leicht vertiefend betrachtet werden können. Während dabei gelegentlich auch jede noch so kleine Aussage belegt wird, hätte man sich im Zusammenhang mit den in der Arbeit erwähnten beziehungsweise zitierten Personen – namentlich Trinette Bindschedler (1825 – 1879), Ruth Felgentreff (1924 – 2014), Caroline Fliedner (1811 – 1892), Friederike Fliedner (1800 – 1842), Theodor Fliedner (1800 – 1864), Elisabeth Fry (1780 – 1845), Louis Germond (1796 – 1968), Anna Herr (1863 – 1918), Franz Heinrich Härter (1797 – 1874), Florence Nightingale (1820 – 1910), Amalie Sieveking (1794 – 1859), Christian Friedrich Spittler (1782 – 1867), Anna Sticker (1902 – 1995) und Eva von Tiele-Winkler (1866 – 1930) – einen Hinweis auf das bisher im Umfang von neun Bänden vorliegende „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte“ gewünscht.

Sieht man hiervon einmal ab, hat Regula Schär mit der vorliegenden Studie die jüngeren pflegehistorischen Forschungsarbeiten zur Rolle und dem Alltag der Diakonissen im Kontext der konfessionellen Krankenpflege bereichert. Im Hinblick auf das Untersuchungsgebiet ist ihre Darstellung umso bedeutender, als die Forschungslandschaft zu den Diakonissenhäusern und den Diakonissen in der Schweiz – abgesehen von Sammelbänden, in denen evangelische Ordensgemeinschaften ihre Geschichte und ihre Projekte im 21. Jahrhundert selber vorstellen – noch immer recht lückenhaft und heterogen ist.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling