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Pierre Pfütsch (Hrsg.)

Die Rolle der Pflege in der NS-Zeit
Neue Perspektiven, Forschungen und Quellen

(Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 83). Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2024, 398 Seiten, broschiert, 68,00 €, ISBN 978-3-515-13218-3

In der Geschichte der Krankenpflege kommt der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (1933-1945) insofern eine besondere Bedeutung zu, als in dieser Zeit das Wohl des Volkes über das Wohlergehen des Einzelnen gestellt wurde. Dabei schloss die ideologische, strukturelle und personelle Entwicklung der beruflichen Krankenpflege im NS-Staat die aktive Beteiligung der Pflegefachkräfte an den systematischen Krankenmorden ein. Vor diesem Hintergrund hat heute nicht nur in der psychiatrischen Pflege, sondern auch in allen anderen Bereichen der Pflege und der Pflegepädagogik, die Frage nach dem individuellen Verständnis von Gesundheit und Krankheit und der Eigenverantwortung der Pflegekräfte eine zentrale berufsethische Bedeutung.

Aufbauend auf die bislang vorliegenden Veröffentlichungen zur Geschichte der Pflege in der NS-Zeit, wobei erste Arbeiten in den 1980er Jahren vor allem durch die Krankenschwester und spätere Hochschullehrerin Prof. Dr. Hilde Steppe (1947-1999) entstanden, präsentiert der vorliegende Sammelband, worauf der Untertitel verweist, „Neue Perspektiven, Forschungen und Quellen“ zum Thema. Die interdisziplinär ausgerichteten Beiträge gehen dabei unter anderem der Frage nach, welche Funktion Pflege generell in der NS-Ära besaß und welches berufliche Selbstverständnis dem zugrunde lag. Wie sah die standespolitische Vertretung aus und wie fügte diese sich in die NS-Strukturen ein? Wie war der Umgang mit jüdischen Kolleg:innen?

Darüber hinaus geht es um die Rolle der Pflegenden im Kontext von medizinischen Verbrechen in Konzentrationslagern, Heil- und Pflegeanstalten und (psychiatrischen) Kliniken: waren sie nur ausführende Organe oder besaßen sie auch Handlungsspielräume? Und wenn ja, wie sahen diese konkret aus? Ferner wird auch die Zeit nach 1945 in den Blick genommen und danach gefragt, welche Bedeutung eine mögliche NS-Vergangenheit für die Pflegerinnen und Pfleger nach 1945 hatten, ob sich eher Kontinuitäten oder Brüche zeigten und ob eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen im Kreis der Pflegenden stattfand?

Für die Herausgabe des Bandes, der auf einer Tagung der „German Association for the History of Nursing“ („Deutsche Gesellschaft für Pflegegeschichte“) beruht, die im Jahr 2021 in der sächsischen Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein stattfand, zeichnet sich der promovierte Historiker Dr. Pierre Pfütsch verantwortlich, der seit 2015 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (Stuttgart) arbeitet, wobei ihm seit 2019 auch die Redaktion der renommierten, von Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Robert Jütte gegründeten und heute von Dr. phil. Marion Baschin herausgegebenen Schriftenreihe „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ obliegt.

Pierre Pfütsch veröffentlichte zahlreiche Arbeiten, darunter jüngst „Notfallsanitäter als neuer Beruf im Rettungsdienst. Ein Überblick über Entwicklungen und Tendenzen“ (Wiesbaden 2020). Unter seiner Herausgebertätigkeit erschienen unter anderem (gemeinsam mit Sylvelyn Hähner-Rombach) das Lehr- und Studienbuch „Entwicklungen in der Krankenpflege und in anderen Gesundheitsberufen nach 1945“ (Frankfurt am Main 2018) und die Sammelbände (gemeinsam mit Annett Büttner) „Geschichte chirurgischer Assistenzberufe von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“ (Frankfurt am Main 2020) und (gemeinsam mit Martin Dinges) „Männlichkeiten in der Frühmoderne. Körper, Gesundheit und Krankheit (1500-1850)“ (Stuttgart 2020).

In seiner Einleitung „Neue Perspektiven auf die Geschichte der Pflege im Nationalsozialismus“ (S. 9-24) weist der Herausgeber darauf hin, dass es in der Pflegegeschichte noch viele Leerstellen gibt, da sie „gegenüber der Medizingeschichte grundsätzlich weniger gut erforscht“ sei. Gegenwärtig ließen sich als zentrale Themen zur Geschichte der Pflege in der NS-Zeit die Organisation der Pflege, die pflegerische Versorgung der Zivilbevölkerung, die Rolle von Pflegenden in den Heil- und Pflegeanstalten, die Pflege in (Konzentrations-) Lagern und die Kriegskrankenpflege ausmachen. Angesichts der Fülle an Themen könne der vorliegende Band nicht konsequent eine Fragestellung verfolgen: „Vielmehr soll er dazu dienen, einen Überblick über gegenwärtige Forschungen zu geben, Anschlussmöglichkeiten aufzuzeigen und im besten Falle sogar neue Untersuchungen anzuregen. Der Band trägt dazu bei, die Entwicklung seit Hilde Steppe zusammenzutragen und damit ein übersichtlicheres Bild zu neueren Forschungen bezüglich der Pflege in der NS-Zeit zu präsentieren“ (S. 18).

Die Publikation, die mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH (Stuttgart) gedruckt wurde, vereint zwölf Beiträge von Historiker:innen, Medizinhistoriker:innen, Pflegewissenschaftler:innen, Pflegefachpersonen aus der Praxis, Literaturwissenschaftler:innen und auch an der historischen Pflegeforschung Interessierten, die fünf verschiedenen Themenbereichen zugeordnet sind.

Im Mittelpunkt des ersten Bereichs „Pflege, Politik und Religion“, der drei Beiträge vereint, stehen vornehmlich organisatorische Fragestellungen. Unter der Überschrift „Freiwilligkeit der Diakonie im Nationalsozialismus“ (S. 27-56) blickt Elena M. E. Kiesel anhand von drei mitteldeutschen Diakonissenmutterhäusern auf die alltäglichen Veränderungen in deren Gesundheits- und Pflegesystem und wie sie mit der Umgestaltung der Fürsorge- und Wohlfahrtslandschaft umgingen. Demgegenüber setzt Annett Büttner sich in zwei Beiträgen mit der „Errichtung der Verbandsschwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes“ (S. 57-86) auseinander und schaut sich den „Umgang mit jüdischen Angehörigen von Diakonissenmutterhäusern in der NS-Zeit“ (S. 87-106) genau an. Hierbei kann sie zeigen, dass der Kaiserswerther Verband trotz tradierter anderer Erzählungen ebenso wie andere Organisationen der Inneren Mission ein integrierter Bestandteil der NS-Sozialpolitik war und die nationalsozialistischen Versuche der Gleichschaltung auf ein breites weltanschauliches Entgegenkommen in Kaiserswerth stießen.

Der zweite Bereich „Pflege und ‚Euthanasie‘“ umfasst ebenfalls drei Beiträge, die sich schwerpunktmäßig mit der Rolle der Pflegenden bei den Patient:innenmorden beschäftigen. Dabei nimmt Marion Voggenreiter „Das Pflegepersonal der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen und die NS-‚Euthanasie‘“ (S. 109-147) in den Blick, Katharina Genz die „Krankenpflege und ‚Kindereuthanasie‘ im Nationalsozialismus am Beispiel der ‚Kinderfachabteilungen‘ Lüneburg und Hamburg“ (S. 149-183) und Stefan Kiefer die umstrittene „Widerstandsgeschichte von Amalie Widmann“ (S. 185-207).

Der dritte Bereich „Pflege in Lagern“ vereint zwei Beiträge. Während Petra Betzien in ihrem Beitrag „Rolle und Selbstverständnis der NS-Krankenschwestern in den Frauen-KZs Lichtenburg, Ravensbrück und Auschwitz“ (S. 211-244) zu dem Ergebnis kommt, dass in den Häftlingsrevieren durchaus begrenzte Möglichkeiten für Krankenschwestern bestanden, Einfluss zu nehmen, zeigt Irina Rebrova in Ihrem Beitrag „Die Rolle des lokalen Pflegepersonals im Zuge der NS-Verbrechen gegen Menschen mit Behinderungen in den besetzten Gebieten Russlands“ (S. 245-270), dass nicht nur die deutschen Besatzungsbehörden  für die Patient:innentötungen in den besetzten Gebieten des Landes Verantwortung trugen, sondern auch  medizinisches und pflegerisches Personal aus den russischen Anstalten in die Tötungen involviert waren.

Der vierte Bereich „Hebammen im Nationalsozialismus“ umfasst zwei Beiträge, die zeigen, dass auch die Berufsgeschichte der Hebammen für die Geschichte der Pflege im Nationalsozialismus nicht irrelevant ist. Ähnlich wie die Krankenpflege erfuhren damals auch die Hebammen als Berufsstand eine Aufwertung. Gleichzeitig wurde ihre Tätigkeit mehr und mehr politisch, indem sie ihre Vertrauensstellung in der Bevölkerung dafür nutzen sollten, Schwangere und ihre Familien im Sinne der NS-Ideologie zu erziehen, weltanschauliche Fragen zu vermitteln, für Kinderreichtum zu werben und eine Akzeptanz der Gesundheitspolitik zu sichern. Vor diesem Hintergrund untersucht Sophia König „Leipziger Hebammen, ihre Betreuungsaufgaben und Beteiligung an der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik“ (S. 273-308) und berichtet Wiebke Lisner über „Geburtshilfe und Reichshebammengesetz als Instrumente des ‚Volkstumskampfes‘ im Warthegau 1939-1945?“ (S. 309-337).

Die beiden Beiträge des fünften Bereichs „Literarische Verarbeitungen“ widmen sich der literarischen Verarbeitung der Pflege im Nationalsozialismus und der nachkriegsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Während dabei Anne D. Peiter über „Ärzte, Kranke und ihre Räume in Zeugnissen von Überlebenden des Vernichtungslagers Treblinka“ (S. 341-367) berichtet, stellt Beate Mitzscherlich „Herta Grandts Innenansichten aus der Leipziger Psychiatrie während der ‚Euthanasie‘ im Roman ‚Eine Handvoll Erbarmen‘ (1964)“ (S. 369-398) vor.

Insgesamt betrachtet bietet der vorliegende Sammelband einen hervorragenden Überblick über die thematische Bandbreite der NS-Pflegeforschung und deren aktuellen Stand. Insofern sollte das Buch in Lehre und Forschung dankbar aufgenommen werden.

Für alle am Thema Interessierten sei noch der Hinweis erlaubt, dass inzwischen auch eine Reihe von Täter:innen-Biographien erforscht und im „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte“ (1997-2022) veröffentlicht wurden, darunter beispielsweise die an den „Euthanasie“-Verbrechen unmittelbar beteiligten Krankenpfleger:innen Katharina (Käte) Gumbmann (1898-1985), Irmgard Huber (1901-1974), Heinrich Ruoff (1887-1946), Helene Schürg (1904-1975), Karl Willig (1894-1946) und Minna Zachow (1893-1977).

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling