Die Gedenkstätte Prosektur von Kloster Irsee. Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven

Die Gedenkstätte Prosektur von Kloster Irsee. Entwicklungen – Kontroversen – PerspektivenBarbara Holzmann, Stefan Raueiser (Hrsg.)

Für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags herausgegeben von Barbara Holzmann und Stefan Raueiser (Bildungswerk Irsee, Impulse Band 19). Grizeto Verlag, Irsee, 2022, 167 Seiten, broschiert, 17,80 €, ISBN 978-3-9821217-5-8

 

In der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) wurden vermutlich weit über 300.000 Menschen in psychiatrischen Einrichtungen im Einflussgebiet des Deutschen Reichs als angeblich „lebensunwertes Leben“ und als gesellschaftlich vermeintlich unnütze „Ballastexistenzen“ selektiert und durch Kohlenmonoxid, überdosierte Medikamente, Vernachlässigung oder gezielten Nahrungsentzug ermordet. An diesen Verbrechen waren auch bayerische beziehungsweise schwäbische Heil- und Pflegeanstalten beteiligt, darunter die Kreis- Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren (seit 1876) und Kloster Irsee (1949 bis 1972). Bis zu 1.600 Menschen aus beiden Anstaltsteilen, Frauen, Männer und Kinder, wurden im Zuge der NS-„Euthanasie“ in die Tötungsanstalten Grafeneck (bei Gomadingen im heutigen baden-württembergischen Landkreis Reutlingen) und Schloss Hartheim (in Alkoven in Oberösterreich) deportiert, starben nach Verordnung einer fettlosen, in Irsee „Schmalkost“ genannten Hungerkost oder fanden durch bewusst überdosierte Medikamentengaben den vorzeitigen Tod. In der Prosektur, die in Kloster Irsee 1876 neu gebaut worden war, wurden die Leichen seziert und falsche Totenscheine ausgestellt. 1944 wurde aufgrund der vielen Toten nördlich der Klosterkirche ein eigener Anstalts-Friedhof angelegt.

Im Bewusstsein um die Verbrechen haben sich die entsprechenden Nachfolgeinstitutionen, die heute in Trägerschaft der Bayerischen Bezirke stehen, wiederholt zu ihrer historischen Verantwortung und zu einem offenen Umgang mit der eigenen Geschichte bekannt. So wurde beispielsweise in Kloster Irsee bereits im Sommer 1981, mit der Eröffnung des Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrums des Bezirks Schwaben, ein monumentales Denkmal „Den stummen Opfern politischer Gewaltherrschaft zum Gedenken“ gewidmet. Darüber hinaus wurde in der Folgezeit das Schicksal der Opfer umfassend erforscht und ihnen – unter Beteiligung von Angehörigen – namentlich gedacht, etwa durch die Setzung von „Stolpersteinen“, die Veröffentlichung diverser Publikationen und nicht zuletzt durch die seit 2010 jährlich stattfindende Gedenkveranstaltung „Lichter gegen das Vergessen“ auf dem ehemaligen Patientenfriedhof.

Während die Erinnerungsorte an die NS-Patientenmorde in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Irsee einem mittlerweile vierzigjährigen Transformationsprozess unterliegen, entzündeten sich in den letzten Jahren um die konkrete Ausgestaltung der Mitte der 1990er-Jahre gewidmeten „Gedenkstätte Prosektur“ eine öffentliche und mitunter hitzig geführte Debatte um deren würdevolle Ausgestaltung. Auslöser waren dabei insbesondere Fragen zur Verwendung historischer Fotos in einem Kunstwerk, hier konkret ein Triptychon der Künstlerin Beate Passow, das aus drei großformatigen, künstlerisch bearbeiteten Fotos besteht, auf dem ein abgemagertes, missgebildetes Kind in verschiedenen Körperhaltungen nackt abgebildet ist. Eine weitere Problematik in diesem Zusammenhang ist die Offenlegung von Namen und Details aus archivierten Krankengeschichten.

Die mitunter skandalierenden, Andersdenkenden die Urteilskraft absprechenden öffentlichen Meinungsbekundungen veranlassten das Schwäbische Bildungszentrum Irsee, seine Werkleitung wie den Irsee-Werkausschuss des Bezirks Schwaben dazu, Expertisen zum Gedenkort Prosektur, zur Geschichte der dargestellten Opfer sowie zu den Standards heutigen Umgangs mit historischem Bildmaterial im Kontext einer Gedenkstätte einzuholen. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Gutachten, Stellungnahmen und Untersuchungen finden sich vereint in dem vorliegenden Buch, das als Band 19 der vom Bildungswerk Irsee herausgegebenen Schriftenreihe „Impulse“ erscheint.

Mit der Veröffentlichung, die für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags von Barbara Holzmann, Bezirkstagsvizepräsidentin von Schwaben und Erste Vizepräsidentin des Bayerischen Bezirketags, und Dr. theol. Stefan Raueiser, Leiter des Bildungswerks des Bayerischen Bezirketags und des Schwäbischen Bildungszentrums Kloster Irsee, herausgegeben wird, möchte die Einrichtung ihre Bemühungen fortsetzen, die höchst ambivalente Psychiatriegeschichte der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt im Detail aufzuarbeiten und die noch vorhandenen Spuren der Erinnerung in ein schlüssiges Gedenkkonzept zu integrieren.

Zu der Publikation hat Franz Löffler, Präsident des Bayerischen Bezirketags, ein Geleitwort beigesteuert, in dem er betont, dass „niemals“ Schluss sein darf mit der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Vielmehr mahnten uns die Opfer von damals, sensibel zu sein gegenüber Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten und Andersdenkenden heutzutage. Wörtlich hält er sodann fest: „Auch die Bayerischen Bezirke, ihre Gesundheitsunternehmen und Einrichtungen, wie wir als Bayerischer Spitzenverband wollen dazu beitragen, dass die Erinnerungskultur lebendig bleibt und die dazu notwendigen Debatten und Kontroversen transparent, fair und von Wertschätzung getragen geführt werden“ (S. 9).

In ihrem Editorial „Das Leiden anderer Betrachten“ (S. 13-19 wünschen die Herausgebenden ihrer Leserschaft nicht nur „eine anregende Lektüre“, sondern verweisen auch auf die Bedeutung und Intention der Veröffentlichung, „die Sie dabei unterstützen möge, ein fundiertes, eigenständiges Urteil über die aktuell im Gang befindlichen Transformationen in der Gestaltung von Erinnerungsorten an die NS-‚Euthanasie‘-Verbrechen zu entwickeln“ (S. 19).

Die in drei Bereiche unterteilten Beiträge des Sammelbandes, der durch zahlreiche Schwarzweiß- und Farbabbildungen illustriert wird, thematisieren aus persönlichen Blickwinkeln wie wissenschaftlich fundierten Perspektiven am Beispiel des Gedenkorts Kloster Irsee das Spannungsverhältnis zur aktuell umstrittenen Präsentation von Opferbildern und ringen darum, in angemessener Weise Zeugnis über die „Euthanasie“-Verbrechen abzulegen.

Der erste Bereich umfasst zwei Beiträge von Dr. Gerald Dobler, in denen er einerseits eine profunde „Baudokumentation“ (S. 23-40) zum ehemaligen Sektions- und Leichenhaus der Anstalt vorlegt und andererseits das „Buch der Sectionen“ (S. 41-53) des Irseer Sektionsdieners Max Ries minutiös auswertet und eine thematische Skizze für einen zusätzlich einzurichtenden „Informationsraum Psychiatrie“ im Konventgebäude von Kloster Irsee vorlegt.

Im zweiten Bereich, der sechs Beiträge umfasst, beleuchtet zunächst Isabella Ruhland aus medizinhistorischer Perspektive, wie komplex sich der Umgang mit der „NS-‚Euthanasie‘ in der bildenden Kunst zwischen 1945 und 1996“ (S. 57-84) gestaltete. Sodann geben Prof. Dr. Jörg Skriebeleit und Prof. Dr. Maike Rotzoll mit ihren Gutachten „Gewalt und Gedenken“ (S. 85-101) und „Zur Kontroverse um die Hängung des Triptychons“ (S. 102-106) erste Hinweise auf die Notwendigkeit einer inhaltlichen Neubewertung wie möglichen künftigen Gestaltung des Gedenkorts Irsee. Während Dr. phil. Dietmar Schulze sich auf die Suche nach den „Bildvorlagen“ (S. 107-110) für Beate Passows umstrittenes Triptychon machte, konnte auf dessen Grundlage Prof. Dr. Gerrit Hohendorf eine gutachterliche Stellungnahme „Zu den Krankengeschichten“ (S. 111-119) der identifizierten Kinder erstellen. Unter der Überschrift „Wunden der Erinnerung“ (S. 120-137) setzt sich schließlich Prof. Dr. Andreas Burmester nicht nur als Kunsthistoriker, sondern vorwiegend als Angehöriger intensiv mit dem Irseer Triptychon auseinander.

Im Mittelpunkt der drei Beiträge des dritten Bereichs stehen die vom „Fachbeirat Neukonzeption ‚Gedenkstätte Prosektur‘“ (Prof. Dr. Andreas Burmeister, Dr. phil. und med. habil. Georg Lilienthal, PD Dr. med. Albert Putzhammer, PD Dr. phil. Thomas Röske und Prof. Dr. Maike Rotzoll) empfohlenen „Sofortmaßnahmen“ (S.139-143) zur Umgestaltung der Gedenkstätte Prosektur von Kloster Irsee, die vom Irsee-Werkausschuss des Bezirkstags von Schwaben einstimmig zur Umsetzung verabschiedet wurden. Weiterhin empfiehlt der Fachbeirat, mittelfristig in Kloster Irsee das Drei-Säulen-Konzept „Gedenken – Information – Bildung“ zu verfolgen. Danach sollten der Patientenfriedhof und die Prosektur als Gedenkort erhalten, ein zentraler Informationsraum in Irsee geschaffen und die Bildungsangebote zum Thema NS-„Euthanasie“ in Irsee gebündelt werden.

Während schließlich Gerald Dobler zur Psychiatriegeschichte von Kloster Irsee eine „Skizze der geplanten Ausstellung im Konventgebäude“ (S. 144-155) vorlegt, bietet Erich Hackel in seinem Beitrag „Barrierefreie Erschließung und ein Leitsystem“ (S. 156-161) erste Entwürfe für das Gestaltungskonzept der neuen Gedenkstätte Prosektur.

Insgesamt betrachtet rühren die in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge am Beispiel des Gedenkorts Kloster Irsee an bis heute schmerzende „Wunden der Erinnerung“. Die dabei angesprochen Fragen haben unterdessen weit über die lokalen Gegebenheiten hinaus große Bedeutung und Brisanz, nicht zuletzt für die Gedenkstättenarbeit andernorts. Insofern ist die Lektüre allen zu empfehlen, denen ein zeitgemäßes Erinnern und Gedenken an die NS-Patientenmorde am Herzen liegt. Um den Opfern adäquat zu gedenken – als Personen, als Individuen – sollte es letztlich immer darum gehen, den konkreten Menschen hinter historischen Fotos und Akten auszumachen.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling