Fruzsina Müller
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig, 2023, 263 Seiten, Festeinband, 32,00 €, ISBN 978-3-96023-481-4
Das Evangelische Diakonissenkrankenhaus in Leipzig- Lindenau ist eine Klinik mit Tradition, die ihre Patientinnen und Patienten im Sinne des evangelisch-diakonischen Auftrags bis heute versorgt. Aus dem Gedanken heraus menschliche Not zu lindern, war es die Initiative von Geheimrat Oscar Pank (1838- 1926), Superintendent an der Thomaskirche, 1891 das Leipziger Diakonissenhaus – heute Evangelisch-Lutherisches Diakonissenhaus Leipzig e. V. (https://www. dh-leipzig.eu/) – zu gründen. Sein Ziel war es, die Pflegestationen der Kirchengemeinde der Stadt mit Diakonissen eines eigenen Mutterhauses zu besetzen, nachdem diesen Dienst bis dahin Diakonissen der bereits 1844 gegründeten Dresdner Diakonissenanstalt leisteten. 1900 konnte der Mutterhausneubau als Heimstatt der Diakonissen bezogen werden. Dem unmittelbar daneben erbauten Diakonissenkrankenhaus, das im selben Jahr feierlich eröffnet werden konnte, kam unterdessen eine wichtige Rolle in der Gesundheitsversorgung der stark industrialisierten und dicht besiedelten westlichen Stadtgebiete zu. Mit Beginn der stationären Krankenpflege wurde zugleich die poliklinische Arbeit aufgenommen, ebenso die theoretische Krankenpflegeausbildung, die 1925 die staatliche Anerkennung erhielt. Alsbald wirkte eine Vielzahl Leipziger Diakonissen auch in zahlreichen weiteren Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Sachsens, neben der Universitäts-Augenklinik auch in den Krankenhäusern in Borna, Colditz, Döbeln, Grimma, Hartmannsdorf, Mügeln, Rochlitz, Waldheim und Zschopau.
2016 wurde mit einem „Denk- und Dankjahr“ die Gründung des Evangelisch-Lutherischen Diakonissenhauses in Leipzig vor 125 Jahren gefeiert. Neben einer historischen Ausstellung, bei der es sich zugleich um die erste wissenschaftliche Annäherung an die Geschichte des Hauses handelte, erschien zu diesem Jubiläum auch die Festschrift „Treu im Glauben, barmherzig im Handeln“, die das Geschehene noch einmal Revue passieren lässt. Zugleich gab der Vorstand des Diakonievereins Leipzig e. V. anlässlich des Gründungsjubiläums bei der Kuratorin der Ausstellung ein Forschungsprojekt in Auftrag, das sich zum Ziel setzte, die Geschichte des Leipziger Diakonissenhauses nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu erforschen. Dabei war es ein wichtiges Anliegen, die historische Entwicklung des Hauses in einen gesamtgesellschaftlichen, sozialen und stadtgeschichtlichen Kontext zu rücken. Als Ergebnis liegt nun das 263 Seiten umfassende Buch „Das Leipziger Diakonissenhaus. Die Geschichte einer Schwesternschaft und ihres Krankenhauses“ vor.
Verfasst wurde die Untersuchung, die tiefe und vielfältige Einblicke in die bewegte Geschichte einer Institution erlaubt, die für die Leipziger Stadtentwicklung, insbesondere im Gesundheitssektor, prägend war, von Fruzsina Müller, die 1981 in Budapest (Ungarn) geboren wurde, dort und in Leipzig Germanistik und Journalistik studierte und 2016 am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig mit der Dissertation „Jeanssozialismus. Konsum und Mode im staatssozialistischen Ungarn“ (Göttingen 2017) promovierte. Während sie aktuell zu Krankenpfleger:innen mit Migrationserfahrung forscht, setzt sie sich als Vorstandsmitglied des Initiativkreises „Riebeckstraße 63 e. V.“ seit mehreren Jahren für einen Gedenkort für die ehemalige Städtische Arbeitsanstalt in Leipzig ein.
Zur Bedeutung und Intention ihrer Publikation, die schwerpunktmäßig die Zeit von 1891 bis 1989 umfasst, während die Entwicklung von 1990 bis 2022 separat in einem chronologischen Anhang aufgezeigt wird, schreibt die Autorin im Nachwort: „Die vorliegende Studie ist das Ergebnis eines vierjährigen intensiven Forschungsprojektes. Sie ist keine Chronik im Sinne einer Aufzählung von Ereignissen und Würdigung von Personen. Vielmehr ist sie eine wissenschaftliche Studie, die relevante Fragen stellt und diese anhand der auffindbaren Quellen und im Kontext der bisherigen Forschungsergebnisse beantwortet. […] Zur Zielgruppe zählen neben ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Expertinnen und Experten der Mutterhausforschung eine breite, interessierte Öffentlichkeit, die die spezifische Kultur der Diakonissen, ihren Pflegeanspruch, ihre Lebensweise, ihr Mutterhaus und ihr Krankenhaus im Wandel der Zeit verstehen wollen“ (S. 237).
Nach der Einführung „Über dieses Buch“ (S. 9-15) mit Hinweisen zum Forschungsstand und Aufbau gliedert sich die Veröffentlichung in vier thematische Blöcke mit chronologischen Unterthemen.
Im ersten Block „Die Grundlagen der Diakonissentradition“ (S. 17-30) steht der Diakonieverein Leipzig im Mittelpunkt: die Strukturen, die Finanzierung, die Netzwerke und das Verhältnis des Vereins zum Staat und zur Landeskirche. Gefragt wird außerdem nach der Haltung des jeweiligen Hausvorstands in den sich wandelnden politischen Systemen.
Im zweiten Block „Die Schwesternschaft als Berufsgruppe und evangelische Lebensgemeinschaft“ (S. 31- 114) geht es um die Frage, welche Frauen ins Mutterhaus eingetreten und warum manche – nicht wenige – auch wieder ausgetreten sind, wie sich ihr Lebensweg gestaltete, welche Tätigkeiten die Frauen konkret in den mehr als 90 Einrichtungen ausübten, über die sich ihr Einsatzbereich zeitweise erstreckte, woher die dafür benötigten finanziellen Mittel kamen und welche Rolle das Diakonissenhaus und ihr christlich geprägtes Krankenhaus in der Zeit des Nationalsozialismus und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) spielte?
Der dritte Block „Der Trägerverein als Arbeitgeber und Netzwerker“ (S. 115-170) blickt auf die Krankenpflegeausbildung im Diakonissenhaus, die nach den ersten Jahren, in denen die praktische Ausbildung im städtischen Krankenhaus St. Jakob erfolgte, vom Diakonissenhaus übernommen und später auch staatlich anerkannt wurde.
Im Zentrum des vierten Blocks „Krankenhaus und Ärzteschaft zwischen Heilen und politischem Handeln“ (S. 171-216) stehen das Krankenhaus und die Tätigkeit der Ärzte und später auch der dort arbeitenden Ärztinnen.
Nach dem „Fazit“ (S. 217-225), in dem die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst sind, wird die Darstellung durch einen Anhang (S. 227-263) ergänzt, der neben einer kurzen Chronik – die über die medizinischen, gesellschaftsrechtlichen, personellen und baulichen Entwicklungen des Diakonissenhauses und Diakonissenkrankenhauses Leipzig von 1990 bis 2022 informiert – auch ein Abkürzungsverzeichnis, ein kombiniertes Literatur- und Archivalienverzeichnis sowie ein (nicht zuletzt im Hinblick auf weitergehende Forschungen sehr hilfreiches) Namensregister umfasst.
In ihrer Darstellung betrachtet Fruzsina Müller die einzelnen Epochen unter dem Blickwinkel der Stadtgeschichte, der Diakoniegeschichte, der Geschlechtergeschichte und insbesondere der Krankenhaus- und Pflegegeschichte. Hierbei behandelt sie die konkreten Aufgabenfelder der Pflegenden, ihre Arbeit und Hilfsmittel, ihre Ausbildung und ihr Krankheitsverständnis. Zugleich untersucht sie, wie die Krankenschwestern in der Pflegeschule ausgebildet wurden und welche Auswirkungen die staatliche Anerkennung der Ausbildung auf die Lehrinhalte hatte.
Der Gründung und Entwicklung des evangelischen Diakonissenkrankenhauses geht die Autorin vor allem aus krankenhausgeschichtlicher Perspektive nach und fragt danach, wie sich das Verhältnis zwischen den Ärzten und dem Arbeitgeber Diakonissenhaus gestaltete, welche medizinischen und ethischen Entwicklungen berücksichtigt oder abgelehnt wurden, wie sich das Krankenhaus finanzierte und welche Rolle es in der Gesundheitsversorgung der Stadt Leipzig spielte? Einzelne Personen – darunter eine Diakonisse, die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde wurde und eine andere, die als Operationsassistentin bei Zwangssterilisierungen mitwirkte – stellt sie ausführlicher vor, entweder weil diese das Haus auf besondere Weise prägten oder weil ihre Biografien und Karrieren exemplarisch für andere Angehörige des Hauses stehen.
Bei ihren Ausführungen stützt Fruzsina Müller sich primär auf Unterlagen im Leipziger Diakonissenhaus, die den Zeitraum von der Gründerzeit bis in die Gegenwart umfassen, darunter Satzungen und ihre Änderungen, Korrespondenzen der Hausvorstände, Sitzungsprotokolle des Vorstands und des Schwesternrates, finanzielle Unterlagen und Personalakten. Um Lücken zu füllen – so wurden nach Angaben der Autorin offensichtlich Akten aus der nationalsozialistischen Zeit gezielt entfernt – beziehungsweise neue Perspektiven zu gewinnen nutzte sie Bestände weiterer Archive, darunter der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth/Düsseldorf, das Archiv für Diakonie und Entwicklung (ADE) in Berlin, das Ephoralarchiv in Leipzig, das Landeskirchenarchiv in Dresden, das Archiv des Diakonischen Werks der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Radebeul, das Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale und mehrere Archive von Kirchengemeinden. Ergänzend hierzu führte sie Gespräche mit Diakonissen und (ehemaligen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses.
Laut dem Buchrückentext versteht sich das vorliegende Buch, das durch zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen aus dem Archiv des Leipziger Diakonissenhauses anschaulich und lebendig ergänzt wird, als „eine Hommage auf die Hunderte von Frauen, die insgesamt 130 Jahre lang im Dienst des Diakonissenhauses standen, professionelle Kranken- und Gesundheitspflege betrieben, Kinder betreuten, sich um alte Menschen kümmerten, Pflegeausbildung anboten, bei Operationen assistierten und sogar nach Brasilien ausgesandt wurden.“
Aufgrund ihrer intensiven Recherchen konnte Fruzsina Müller zahlreiche neue Erkenntnisse zur Geschichte der Leipziger Schwesternschaft und ihres Krankenhauses zusammentragen, die sie zu einem ebenso lebendigen wie wissenschaftlich profunden Gesamtbild zusammengefügt hat. Wie sie dabei zeigen kann, trug die Tätigkeit der Leipziger Diakonissen, die innerhalb der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie von Beginn an weitgehend selbstständig agierten, maßgeblich zur Linderung der sozialen Missstände im Leipzig des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bei – paradoxerweise gerade im damaligen „gottlosen“ Arbeitervorort Lindenau. Während durch die rückläufigen Zahlen der Diakonissen die Arbeit der Gemeindepflege an die Sozialstationen überging, wurde das Leipziger Diakonissenkrankenhaus 1995 in die juristische Eigenständigkeit einer gemeinnützigen GmbH überführt.
Das denkmalgeschützte Gebäude „Mutterhaus“, das nach wie vor die geistliche Heimstatt der Diakonissenschwesternschaft ist, wurde nach grundlegender Sanierung 1998 der Zweckbestimmung „Betreutes Seniorenwohnen“ übergeben.
Mit der aktuellen Studie von Fruzsina Müller über „Das Leipziger Diakonissenhaus“ liegt nun, nach der bereits vor zehn Jahren erschienenen Monografie über die „Diakonissenanstalt Dresden 1844-2014“ (Essen 2014), die von der Düsseldorfer Pflegehistorikerin Dr. Anett Büttner im Auftrag des Vorstands der Ev.-Luth. Diakonissenanstalt Dresden e. V. verfasst wurde (vgl. die Besprechung des Rezensenten in: https://www.socialnet. de/rezensionen/16973.php), eine zweite wissenschaftliche Abhandlung über ein Diakonissenmutterhaus in Sachsen vor.
Die Arbeit, die einen hervorragenden Überblick über die Geschichte der Leipziger Schwesternschaft und ihres Krankenhauses bietet, verfügt über einen soliden Anmerkungsapparat, bei dem man sich lediglich noch zu den erwähnten beziehungsweise zitierten, für die Pflegegeschichte bedeutenden Personen Ruth Felgentreff (1924-2014), Caroline Fliedner (1811-1892), Friederike Fliedner (1800-1842), Theodor Fliedner (1800-1864), Sylvelyn Hähner-Rombach (1959-2019), Hans Harmsen (1899-1989), Agnes Karll (1868-1927), Auguste Mohrmann (1891-1967) und Hilde Steppe (1947-1999) Hinweise auf die entsprechenden Einträge im „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte. Who was who in nursing history“ gewünscht hätte. Unabhängig hiervon, kann die spannend zu lesende Veröffentlichung allen empfohlen werden, die sich für Leipziger Stadt- und Diakoniegeschichte, ebenso wie die Pflege- und Krankenhausgeschichte interessieren. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Diakonissenhäusern in Ostdeutschland, die bisher vergleichsweise wenig im Fokus standen, schließt die vorliegende Studie eine Lücke.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling