Die Theorie der Seuche – Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter

Die Theorie der SeucheKatharina Wolff

Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2021, 445 Seiten, Festeinband, 80,00 €, ISBN 978-3-515-12969-5

 

Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches von Katharina Wolff steht die Untersuchung von rund 30 süddeutschen Pestschriften sowie Quellen der Städte Nürnberg, Augsburg und München zur praktischen Umsetzung von Krankheitstheorien im individuellen Lebensbereich bzw. im städtischen Kollektiv. Entstanden ist die beeindruckende Arbeit, deren Drucklegung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder – EXC 212 gefördert wurde, im Rahmen ihrer im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommenen Dissertation.

Die Autorin legte zunächst das Staatsexamen als Medizinisch- technische Laboratoriumsassistentin (MTLA) am Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und medizinische Mikrobiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ab, um nach kurzer Berufstätigkeit ein Studium der Geschichtswissenschaften an der LMU München aufzunehmen, das sie mit dem Magister Artium abschloss. Anschließend war sie von 2014 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster Religion & Politik der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster im Projekt „‚Höhere Gewalt‘ und öffentliche Ordnung. Politik im Zeichen der Pest“, wobei sie über historische Krankheitskonzepte und deren Umsetzung im individuellen und kollektiven Lebensbereich forschte.

Über Seuchen im Allgemeinen und über die Pest im Besonderen liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor, die sich zumeist – einem deskriptiven Ansatz folgend – mit den Auswirkungen auf die Gesellschaft beschäftigen, etwa im Hinblick auf den Alltag, die Wirtschafts- und Sozialpolitik oder das Gesundheitswesen. Demgegenüber hat es sich Katharina Wolff zur Aufgabe gemacht, „hinter die Ereignisse blicken“ (S. 30). Dabei geht sie der Frage nach, warum man der Pest so begegnete, wie man es tat. Zentrale Fragen ihrer Arbeit, mit denen sie nicht nur die Theoriebildung der Zeitgenossen über eine Epidemie und ihre Herkunft, sondern auch die Umsetzung solcher Theorien oder Konzepte in der Alltagspraxis berührt, lauten demnach: Welche zeitgenössischen Konzepte für Krankheit, insbesondere für die Pest und andere, in schweren Epidemien verlaufenden Krankheiten gab es? Wie gestaltete sich die individuelle Pestprophylaxe und -therapie, wie sie aus Pestschriften ersichtlich ist? Welche Krankheitskonzepte fanden Eingang in die Maßnahmen gegen die Pest und andere Seuchen (in den drei süddeutschen Städten Nürnberg, Augsburg und München)? Wie können Verbleib und Verdrängung der teils antiken Krankheitskonzepte bis zur Ausbildung der ablösenden, modernen Disziplin der Mikrobiologie im 19. Jahrhundert nachvollzogen werden?

Nach Ansicht der Autorin bot sich die Pest aufgrund ihres europaweiten, wiederkehrenden Auftretens und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Bevölkerung und ihren Alltag, die ihren Niederschlag in zahlreichen Quellen seit Mitte des 14. Jahrhunderts fanden, als Untersuchungsobjekt an, wobei nicht sicher gesagt werden könne, ob es sich in allen Fällen um das gehandelt hat, was heute unter „Pest“ verstanden wird: „Die Frage nach dem Namen einer historischen Seuche, nach ihrem ‚wahren’ Wesen, ist jedoch ein unbefriedigendes und für die vorliegende Studie auch irrelevantes Unterfangen: Zum einen kann häufig nicht geklärt werden, ob es sich ‚wirklich’ um die Pest gehandelt hat, zum anderen erweisen sich für nach geistig-kulturellem Wandel im Nachgang von Seuchen alle Nachrichten über schwere Epidemien als aufschlussreich, also auch solche über z.B. Syphilisfälle“ (S. 30).

Der Zeitraum der vorliegenden, mit einem soliden Anmerkungsapparat ausgestatten Untersuchung beginnt mit dem Auftreten der Pest in den Jahren 1347/48 und endet in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sich ein Strategiewechsel in der Pestabwehr in den Städten erkennen lässt. Neben der Pest nimmt Katharina Wolff auch Berichte über andere, epidemisch auftretende Krankheiten auf, die Instanzen, Behörden und Chronisten zu Bemerkungen über das Geschehen anregte. Dabei unterscheidet sie „zwei Räume der Pestprophylaxe und -abwehr: Der individuelle, nichtöffentliche, der im häuslichen Bereich zu verorten ist, und den man in der Moderne als ‚privat‘ bezeichnen würde, sowie der kollektive, öffentliche Raum“ (S. 31), die in den Quellen sowohl auf der individuell-nichtöffentlichen als auch auf der kollektiv-öffentlichen Seite repräsentiert seien.

Nach der Einleitung (S. 11-32) mit einem Überblick zur Seuchengeschichte sowie ihren Fragestellungen nähert sich die Autorin im Kapitel „Historische Loimologie“ (S. 33-87) zunächst dem Begriff „Pest“ an, der von der Antike bis weit in die Neuzeit als Sammelbegriff für verschiedene schwere Krankheiten genutzt wurde, die epidemisch auftraten, darunter auch das Antoniusfeuer oder die Syphilis. Unterdessen habe es auf die Frage „Was ist die Pest?“ parallel mehrere gleichsam gültige Antworten gegeben: „Dyskrasie, Miasma, Vergiftung, Gottes Zorn und Strafe, auch göttliche Prüfung oder Treiben des Bösen in der Welt“ (S. 85).

Wie Katharina Wolff im anschließenden Kapitel „Krankheitskonzepte und ihre Rolle im individuellen Pestalltag“ (S. 88-111) darlegt, gab es hinsichtlich der Strategien gegen die Pest nicht nur „eine große Vielfalt an Deutungen und Konzepten“, sondern auch innerhalb der einzelnen Systematiken „eine gewisse Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten“ (S. 110).

Die Akzeptanz ihrer zuvor dargelegten Konzepte für die Pest im öffentlichen Raum überprüft die Autorin sodann am Beispiel der Städte Nürnberg, Augsburg und München (S. 112-224). Wie sie dabei zeigen kann, verlief der Umgang mit der Pest im Untersuchungszeitraum in drei Stufen: Zunächst befassten sich die Stadtherrschaften mit allen Themen und Räumen, die von der Pest betroffen waren, wobei man Aktionen und Erlasse punktuell anordnete. In der zweiten Stufe wurden professionelle Expertisen durch Ärzte eingeholt, während es in der letzten Stufe, die sich zwischen dem Ende des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts vollzog, um Prävention, Verstetigung und Multilateralität ging. Mit der Herausgabe entsprechender Ordnungen traten die Ratsregimenter „als Kollektoren und Distributoren von Spezialwissen auf, das gleichzeitig mit rechtsverbindlichen und strafbewehrten Verordnungen zur Umsetzung versehen wurde“ (S. 222).

In ihrer kurzen Darstellung der Geschichte der Mikrobiologie (S. 225-271) weist Katharina Wolff schließlich darauf hin, dass allen Konzepten, Antworten und Evidenzen zum Trotz die Seuche weiterhin eine dräuende Bedrohung bleibt, die in großem Maße von menschlichen Verhalten abhängig ist: Medikamente müssten korrekt eingenommen, Impfungen durchgeführt, Kondome benutzt, Prophylaxen berücksichtigt und hygienische Einrichtungen aufrechterhalten werden – kurzum: „Seuche ist etwas, das man tut“ (S. 270).

Aufgrund ihrer Untersuchung konstatiert die Autorin in ihrem Gesamtresümee: „Krankheiten befallen Individuen, Seuchen befallen Gesellschaften“ (S. 272). Ohne den Menschen mit seiner Kultur und Gesellschaft, der einem Mikroorganismus ein Vehikel bietet, könnten Seuchen nicht entstehen. Im Hinblick auf die Einschätzung der zeitgenössischen Pestkonzepte betont Katharina Wolff vor allem die große Optionenvielfalt: „Der große Gewinn zahlreicher Antworten auf die Frage nach einer Seuche bestand in der Optionenvielfalt zu deren Bekämpfung“ (S. 273). Die consolatio, der Trost, der aus der Vielfalt der Krankheitskonzepte gewonnen werden konnte, habe darin bestanden, dass sie Ordnung in das Chaos der wiederkehrenden Epidemien brachten. Aufgrund der neuen Anforderungen, die der Schwarze Tod mit sich brachte, hätten die Ärzte, die bisher vor allem in der Individualmedizin, mit einzelnen Personen in deren privatem Bereich befasst waren, „eine neue Rolle als öffentlich tätige Expertenkultur“ (S. 274) eröffnet. Zugleich hätten sich im Untersuchungszeitraum die städtischen Strategien gegen die Pest gewandelt, und zwar „von der punktuell entschiedenen Krisenintervention zur planvollen, vorausschauenden Seuchenprävention“ (S. 274).

Nach einem „Ausblick“ (S. 276-299), unter anderem auf Seuchen und ihre Rollen heute, wird die Darstellung durch einen umfangreichen „Anhang“ (S. 300-415) ergänzt, der neben vier Schwarzweißabbildungen eine umfangreiche Tabelle enthält, in der 31 Pestschriften aus Nürnberg, Augsburg und München differenziert ausgewertet werden.

Insgesamt betrachtet hat die Autorin, basierend auf einer breiten Materialbasis, mit ihrer übersichtlich gegliederten Arbeit beziehungsweise medizinhistorischen Betrachtung der Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter einen bedeutenden Beitrag zur Seuchengeschichte vorgelegt.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling