Nina Grabe
(Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 82) Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2022, 176 Seiten, kartoniert, 44,00 €, ISBN 978-3-515-12990-9
Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, die als Beiheft 82 der renommierten Schriftenreihe „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ erscheint und mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH (Stuttgart) gedruckt wurde, steht die stationäre Versorgung älterer Juden und „rassisch“ verfolgter Christen in Westdeutschland im Zeitraum von 1945 bis 1975.
Verfasst wurde die Arbeit von Nina Grabe (Jahrgang 1976), die nach ihrem Studium der Pädagogik, Kulturanthropologie/ Europäische Ethnologie sowie Geschichte und Ethik der Medizin in Göttingen im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Robert Bosch Stiftung am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart 2015 mit der Dissertation „Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945-1975“ (Stuttgart 2016) promovierte. Anschließend forschte sie im Rahmen von Post-Doc-Projekten/ Stipendien in derselben Einrichtung zur Geschichte der Altenpflegeausbildung und über „Die stationäre Versorgung älterer Displaced Persons und ‚heimatloser Ausländer‘ in Westdeutschland nach 1945“, wozu sie unter anderem eine gleichnamige Monographie (Stuttgart 2020) vorlegte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) lebten in den vier Besatzungszonen von Deutschland nur noch etwa zehn- bis zwanzigtausend Juden, darunter sowohl die Überlebenden der innerhalb der Reichsgrenzen von 1937 errichteten Konzentrationslager (KZ) als auch Personen, die ihrer Deportation in einem Versteck oder mit Hilfe ihrer nichtjüdischen Angehörigen hatten entkommen können. Hinzu kamen etwa neuntausend aus Konzentrationslager außerhalb Deutschlands zurückgekehrte Juden deutscher Herkunft, außerdem viele „rassisch Verfolgte nichtjüdischen Glaubens“, bei denen es sich zumeist um Christen handelte. Zudem waren in den ersten Nachkriegsjahren Juden und Christen jüdischer Herkunft aus dem ausländischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt. Während sich der Großteil der jüdischen Überlebenden für die Auswanderung entschied, verblieb trotz leidvoller Erfahrungen eine kleine Anzahl deutscher Juden im Land ihrer Verfolger – darunter viele ältere Menschen. In einigen westdeutschen Städten kam es daher bereits kurz nach Kriegsende nicht nur zur (Neu-)Gründung jüdischer Gemeinden, sondern auch zur Einrichtung jüdischer Altersheime. Diese boten sowohl den Überlebenden der Konzentrationslager als auch den aus der Emigration zurückgekehrten älteren Menschen Unterkunft.
Nina Grabe hat die Situation der Heime und der dort lebenden alten Menschen nun erstmals einer näheren Betrachtung unterzogen. Dabei ging es ihr, gestützt hauptsächlich auf Archivalien aus dem Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Darmstadt), dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv (Hannover), den Stadtarchiven Hannover und Hamburg sowie dem Zentralarchiv zur Geschichte der Juden (Heidelberg), um die Beantwortung folgender Fragen: Wie gestalteten sich der Heimalltag und die Aufnahmemodalitäten? In welcher Weise wirkte sich die Verfolgungsgeschichte der Bewohner auf ihre körperliche und psychische Gesundheit sowie auf das Zusammenleben und die Beziehungen zu den Mitbewohnern und dem Personal aus? Legten die Heim-Leitungen Wert auf die Einhaltung religiöser Bräuche und Speisevorschriften? Wie konnte vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Mangels an Pflegepersonal die pflegerische und medizinische Betreuung der Heimbewohner gewährleistet werden?
Da die von ihr näher in den Blick genommen Einrichtungen in Hannover, Essen-Werden, Neustadt in der Pfalz und Bad Vilbel in den Jahren zwischen 1948 und 1961 gegründet wurden, legte die Autorin den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die 1950er und 1960er Jahre. Der zeitliche Endpunkt im Jahr 1975 begründet sie damit, dass die Anzahl der im Fokus stehenden Heimbewohner jüdischen Glaubens beziehungsweis jüdischer Herkunft ab den 1970er Jahren deutlich abnahm und seither vermehrt nichtjüdische Bewerber aufgenommen wurden, was zu einer erheblichen Veränderung des Heimmilieus führte.
Nach der Einleitung (S. 7-12) mit Hinweisen zur Quellenlage, zum Untersuchungszeitraum und dem Forschungsstand, einem kurzen Überblick zum Neubeginn jüdischen Lebens nach 1945 und die Gründung jüdischer Altersheime (S. 13-15) sowie über Rassisch verfolgte Christen und die Einrichtung von Altersheimen für rassisch Verfolgte nichtjüdischen Glaubens (S. 16-18), betrachtet Nina Grabe zunächst Die Unterstützung der Überlebenden durch Hilfsorganisationen und Interessengemeinschaften (S. 19-26), bevor sie Die Altersheime für rassisch Verfolgte jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Herkunft (S. 27-48) vorstellt. In weiteren Kapiteln betrachtet sie sodann Die Heimbewohner (S. 49-59), ihre Alterszusammensetzung, das Geschlechterverhältnis und ihren Gesundheitszustand, die Betreuung der Heimbewohner (S. 60-80) in pflegerischer Hinsicht und ärztlichen Versorgung sowie im Hinblick auf die Beerdigungsmodalitäten und die Verpflegung, Das Heimmilieu (S. 81-105), Feiertage, Freizeit, Konflikte und Hausordnungen, die Ausstattung und räumliche Bedingungen (S. 106-116), Finanzielle Aspekte (S. 117-), Finanzierung der Heime und des Heimaufenthalts sowie die Rückerstattung von Eigentum, und das Personal (S. 140-154).
Wie die Autorin in ihrer Zusammenfassung (S. 155- 162) zeigt, waren alle vor dem Krieg existierenden jüdischen Altersheime durch die Nationalsozialisten sowie die Besatzungsmächte zerstört oder zweckentfremdet worden. Während zum Teil schon kurz nach Kriegsende eine Rückgabe der ehemaligen Heimgebäude an die neu gegründeten jüdischen Gemeinden erreicht werden konnte, befanden sich diese in einem mittlerweile stark renovierungsbedürftigen Zustand und mussten daher völlig neu – zumeist allerdings mit gebrauchten Möbeln – ausgestattet werden. Zu den Aufnahmevoraussetzungen der hier im Fokus stehenden Heime gehörten, so Nina Grabe, die jüdische Religion bzw. Abstammung, die deutsche Herkunft sowie der Verfolgtenstatus, die mit verschiedenen Dokumenten belegt werden mussten. Das Milieu der jüdischen Altersheime sei von der jüdischen Religion und Kultur geprägt gewesen, wobei sich die Bewohnerschaft überwiegend dem liberalen Judentum zugehörig fühlte und vor dem Krieg nicht religiös lebte. Trotz der Besinnung auf ihre jüdische Identität hätten die Altersheime „häufig“ auf die Einhaltung der jüdischen Speisevorschriften verzichtet. Schweinefleisch sei aber in keiner der hier untersuchten jüdischen Einrichtungen verarbeitet worden. Die Beerdigung verstorbener Heimbewohner jüdischen Glaubens erfolgte, so die Autorin, nach dem jüdischen Bestattungsritus auf einem jüdischen Friedhof. Bis in die späten 1950er Jahre hätte sich die finanzielle Situation der Überlebenden „fast immer sehr schlecht“ gestaltet; eine Besserung sei erst durch das „Bundesentschädigungsgesetz“ von 1956 erfolgt, das rückwirkend zum 1. Oktober 1953 in Kraft trat.
Wie aus der weiteren Darstellung ersichtlich ist, befanden sich auch die jüdischen Heimträger innerhalb des gesamten Untersuchungszeitraum in einer ähnlich schwierigen Lage wie die Heimbewohner. Die zur Aufrechterhaltung des Heimbetriebs notwendigen Zuschüsse kamen demnach von Seiten der internationalen, vorwiegend jüdischen Hilfsorganisationen als auch vom deutschen Staat bzw. den jeweiligen Landesregierungen.
Zur Gewährleistung einer umfassenden medizinischen Betreuung hätten „die meisten Heime über einen regelmäßig im Haus anwesenden jüdischen oder auch christlichen Heimarzt“ verfügt. Zudem hätten alle hier untersuchten Einrichtungen „mindestens eine ausgebildete Krankenschwester“ beschäftigt, die teilweise zugleich die Heimleitung übernahm. Gleichermaßen häufig sei auch „examinierten Fürsorgerinnen“ diese Aufgabe übertragen worden. Während die pflegerische Betreuung der Bewohner „in den Händen des weiblichen Personals“ gelegen habe, seien die wenigen männlichen Mitarbeiter u. a. als Hausmeister, in der Verwaltung sowie in den Heimvorständen tätig gewesen. Durch die stetig zunehmende Anzahl pflegebedürftiger Heimbewohner habe sich jedoch ein Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal „immer stärker bemerkbar“ gemacht: „Trotz zahlreicher Versuche zur Anwerbung von Pflegekräften sowie des Einsatzes von Hilfskräften und – von den Bewohnern selbst finanzierten – ‚Privatpflegerinnen’ ließ sich das Problem letztlich nicht beheben“ (S. 160).
Wenngleich sich im Laufe der 1960er Jahre immer mehr Altersheime für die Einrichtung einer Pflegestation entschieden hatten, habe sich, so Nina Grabe, die Verlegung in ein Pflegeheim oder Krankenhaus „trotz aller Bemühungen“ nicht immer vermeiden lassen: „Die Bewohner wurden dadurch jedoch nicht nur aus ihrer gewohnten Umgebung, sondern ebenfalls aus der als Schutz empfundenen, vorwiegend aus NS-Opfern bestehenden Heimgemeinschaft gerissen“ (S. 161). Darüber hinaus habe sich v.a. für gläubige Juden der Aufenthalt in einer von christlichen Traditionen geprägten Einrichtung „nicht einfach“ gestaltet.
Im Hinblick auf den Unterschied zwischen den vorwiegend für NS-Opfer errichteten Altersheimen und den fast ausschließlich von Nichtverfolgten bewohnten Einrichtungen konnte die Autorin sowohl zahlreiche Gemeinsamkeiten als auch deutliche Unterschiede feststellen. Während Gemeinsamkeiten u.a. in den grundlegenden Strukturen des Heimbetriebs, der pflegerischen und medizinischen Versorgung, der Altersstruktur sowie dem hohen Frauenanteil unter den Bewohnern und Mitarbeitern bestanden, zeigte sich in der Religion, d.h. den jüdischen Feiertagen, Ritualen und Gebräuchen „die am deutlichsten sichtbaren Differenzen“ zu den nichtjüdischen bzw. christlichen Altersheimen. Im Unterschied zu den nicht von NS-Opfern bewohnten Altersheimen sei der Alltag in den hier untersuchten Einrichtungen „stark vom Verfolgungsschicksal der Bewohner geprägt“ gewesen, was u.a. in den „oft komplizierten Beziehungen der ehemals Verfolgten zu ihren Mitmenschen, insbesondere zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft“ (S. 162) deutlich geworden sei. Mit Rücksicht auf die vielfach schwer traumatisierten alten Menschen hätten die Altersheime für die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur z. B. über „weitaus weniger rigide Heimordnungen“ als andere deutsche Heime verfügt. Dass nahezu alle in dieser Studie genannten Häuser vorwiegend Einzel- und Doppelzimmer aufwiesen, habe in der zeitgenössischen stationären Altersversorgung ebenfalls nicht zum Standard gezählt.
Entsprechende Untersuchungen über die stationäre Versorgung älterer Juden und „rassisch“ verfolgter Christen in Westdeutschland im Zeitraum von 1945 bis 1975 fehlten bislang. Dank der vorliegenden Studie von Nina Grabe stehen nunmehr allen am Thema Interessierten verlässliche Informationen zur Verfügung.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling