von Michael Uhl
Schmetterling Verlag, Stuttgart, 2022, 672 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-89657-036-6
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts setzte sich der in Stuttgart mit eigener Praxis als Praktischer Arzt und Nervenarzt tätige jüdische Arzt Dr. Gustav Feldmann (1872-1947) unermüdlich dafür ein, dass der Beruf der jüdischen Krankenschwester Anerkennung und weite Verbreitung fand. Hierzu hatte er sich in zahlreichen Veröffentlichungen sowohl mit der Bedeutung, den Anforderungen und dem Wesen der jüdischen Krankenpflege sowie der Stellung der Krankenpflegerinnen auseinandergesetzt als auch immer wieder die geleistete Arbeit der Vereine für jüdische Krankenpflegerinnen gewürdigt. So war es seinem maßgeblichen Engagement zu verdanken, dass die Stuttgarter Loge B’nai B’rith im April 1905 den Verein „Jüdisches Schwesternheim Stuttgart“ als ambulanter Pflegedienst gründete, wobei die Schwestern jüdische wie nichtjüdische Kranke in Stuttgart und Region sowie in Ulm und Ludwigsburg betreuten.
Zu den jungen Frauen, die während der Weimarer Republik eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Krankenpflegerin absolvierten, gehörte auch Betty Rosenfeld (1907-1942), die – im Stuttgarter Westen aufgewachsen – als eine von drei Töchtern einer bürgerlichen jüdischen Familie (der Vater war Kaufmann und Inhaber einer kleinen Putzmittelfabrik) entstammte. Nachdem sie ihre 1926 begonnene Ausbildung im (katholischen) Katharinenhospital Stuttgart im Oktober 1927 abgeschlossen hatte, arbeitete sie anschließend im Städtischen Krankenhaus Wiesbaden.
Über das tragische Schicksal dieser ungewöhnlichen und mutigen Frau, die 1942 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, hat der Historiker Michael Uhl (Jg. 1971), der 2002 an der Universität Tübingen mit einer Dissertation zum Thema „Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR“ (Bonn 2004) promovierte, nun ein bewegendes Portrait vorgelegt. Bereits während seines Geschichtsstudiums war er im Militärarchiv der Universität von Salamanca – auf der Suche nach deutschen Freiwilligen der Internationalen Brigaden – in einem Aktenbündel auf ein vergilbtes Dokument der Krankenschwester „Betty Rosenfeld“ gestoßen, nichtsahnend, dass diese Unterlagen etliche Jahre später der Ausgangspunkt intensiver Quellenrecherchen in staatlichen und privaten Archiven in Deutschland, Frankreich, Spanien, Israel und den USA sowie Interviews mit Zeitzeugen sein würden.
Realisiert werden konnte das Vorhaben seit 2017 durch das „Betty-Rosenfeld-Projekt“ (https://www.die-anstifter.de/betty-rosenfeld-projekt/) des Stuttgarter Vereins „Die AnStiftter e. V. – InterCulturelle Initiativen“, zu dessen Aktivitäten unter anderem seit 2003 die jährliche Verleihung des mit 5.000 Euro dotierten „Stuttgarter Friedenspreises“ (https://stuttgarter-friedenspreis.de/) an Menschen und Projekte gehört, die sich in besonderer Weise für „Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität” einsetzen.
Zu der umfangreichen Veröffentlichung, die allein schon durch ihren opulenten Umfang von gut 670 Seiten aus dem sonst üblichen Rahmen vergleichbarer Arbeiten fällt, schreibt Michael Uhl im Vorwort: „Meine Beschreibungen von Situationen und Personen gehen auf alte Photos und Briefe zurück, die ich bei meinen Recherchen gefunden habe. Über so manches Dokument habe ich mir in Archiven lange den Kopf zerbrochen. Wenn ich beim Zusammensetzen des Tatsachen-Puzzles nicht weiterwusste, folgte ich dem Gebot der Wahrscheinlichkeit, im Zweifelsfall meinem eigenen Instinkt. So könnte es gewesen sein“ (S. 11).
Wie der Autor in seiner auf breiter Quellenbasis basierenden Darstellung zeigt, war Betty Rosenfeld schon in ihrer Jugend, die sie beim „Deutsch-jüdischen Wanderbund Kameraden“ und bei der „Demokratischen Jugend“ verbrachte, beseelt von hohen Idealen. Bald schon tippte sie für den kommunistischen Untergrund von Stuttgart Flugblätter gegen die neuen Machthaber in Berlin. Im Gegensatz zu anderen Sozialist*innen mit jüdischen Wurzeln blieb sie stets ihrem Glauben verbunden und trat nie aus ihrer Religionsgemeinschaft aus.
Seit der „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 einer ständigen Bedrohung unterlegen, emigrierte Betty Rosenfeld Anfang Oktober 1935 mit ihren Schwestern nach Palästina, wo sie jedoch den antifaschistischen Impuls und die Gesinnungsgenossen, mit denen sie für „die Sache“ (S. 370) kämpfte, schmerzlich vermisste. Zunächst arbeitete sie wieder als Krankenschwester in einem Kinder- und Säuglingsheim, später dann in der Feldarbeit einer privaten Landwirtschaft mit genossenschaftlicher Verwaltung. Wenngleich sie hier vor den Nazis in Sicherheit war, verließ sie bereits nach zwei Jahren wieder Palästina und reiste auf einem Dampfer von Haifa nach Frankreich, und von da weiter nach Spanien, um sich den Internationalen Brigaden im Kampf gegen das faschistische Franco-Regime anzuschließen: „Sollte sie von Palästina aus tatenlos zusehen, wie sich auf der anderen Seite des Mittelmeers der Faschismus weiter ausbreitete? Sie hatte bei der Internationalen Arbeiterhilfe das ‚Solidaritätslied’ gesungen. Die Stunde war gekommen, Worte in Taten umzusetzen. Solidarität mit Spanien tat Not“ (S. 265).
Nun arbeitete Betty Rosenfeld wieder als Krankenschwester, im Sanitätsdienst der Brigaden, in den Krankenhäusern von Murcia und Martaró, sowie in den Feldlazaretten. „Beim Verbandswechsel wurde Betty buchstäblich hautnah mit den Schrecken des Krieges konfrontiert. Die Wunden und Entstellungen waren mit den Verletzungen, die sie an den Spitälern von Wiesbaden und Stuttgart kennengelernt hatte, kaum zu vergleichen“ (S. 290).
Während Betty Rosenfeld im März 1938 den aus Leipzig stammenden Brigadisten Sally Wittelson (1907-1942) geheiratet hatte, reiste sie im Juli 1938 nach Paris aus, um ihre Schwester Ilse noch einmal zu treffen, die von dort aus nach Amerika auswandern wollte. Zurück nach Spanien konnte sie jetzt nicht mehr, da die Grenzen zwischenzeitlich gesperrt wurden. Nun begann für Betty Rosenfeld eine längere Odyssee als unerwünschter Flüchtling durch Frankreich. Im Juni 1939 wurde sie schließlich von der französischen Polizei verhaftet und 1942 – nach mehrjähriger Internierung hinter Stacheldraht – im Alter von 35 Jahren mit weiteren 1.000 Frauen und Männern in Güterwagen nach Ausschwitz-Birkenau deportiert und am 9. September 1942, kurz nach dem Eintreffen des Zuges, ermordet.
Nachdem im Jahre 2006 in Stuttgart in der Breitscheidstraße 35 drei Stolpersteine für die Familie Rosenfeld verlegt wurden, darunter auch einer Betty Rosenfeld (https://www.stolpersteine-stuttgart.de/biografien/theresia-betty-und-charlotte-rosenfeld-breitscheidstr-35/), ist es erfreulich und sehr zu begrüßen, dass nun auch eine ausführliche Veröffentlichung vorliegt, in der – vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen – das Leben und Wirken sowie tragische Schicksal von Betty Rosenfeld detailreich nachgezeichnet und gewürdigt wird. Das spannend zu lesende Werk, das zuweilen einer Familienbiographie gleichkommt, beschränkt sich bei weitem nicht nur auf biographische Angaben; vielmehr erfährt die Leserschaft auch viele neue Erkenntnisse und wertvolle Informationen zur jüdischen Pflegegeschichte, über den Alltag des jüdischen Lebens in Deutschland sowie die politischen Entwicklungen in Deutschland, Spanien und Frankreich während der NS-Zeit. Selbstredend, dass die mit wissenschaftlichem Anspruch verfasste Darstellung, die durch eine Vielzahl von Schwarzweiß- und Farbabbildungen beziehungsweise Dokumenten bereichert wird, unter anderem einen soliden Anmerkungsapparat, ein Verzeichnis der Quellenangaben, ein Bildnachweis sowie ein Personenregister und Abkürzungsverzeichnis (S. 593-672) enthält.
Dem vorliegenden Buch von Michael Uhl ist weit über die Pflege- und Gesundheitsberufe hinaus eine große Leserschaft umso mehr zu wünschen, als heute die Angriffe auf die Demokratie wieder zu nehmen, nicht nur in Ungarn, Polen oder der Türkei. Von daher gilt es, an Schicksale wie das von Betty Rosenfeld zu erinnern, Brücken ins Jetzt zu schlagen, als Aufruf für Menschenrechte, als Hilferuf zur Solidarität mit jenen, die heute verfolgt werden.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling