von Jamila Aiyana Roth
university press, Kassel, 2022, 449 Seiten, 49,00 €, ISBN 978-3-7376-0986-9
Über die Geschichte der Krankenpflege während der Zeit des Nationalsozialismus gibt es bisher nur wenig fundierte Regionalstudien. Dass nun eine Untersuchung über „Die Pflegerinnen der hessischen Landesheilanstalten in der Zeit des Nationalsozialismus“ vorliegt ist umso erfreulicher, als Hessen mit über 20.000 Mordopfern ein Zentrum der „Euthanasie“-Verbrechen während der NS-Zeit war. Die hier vorzustellende Arbeit ist die vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel 2020 angenommene Dissertation der Historikerin Jamila Aiyana Roth, die sie im Rahmen einer von der „Stiftung der Deutschen Wirtschaft“ geförderten Promotion verfasste. Darin geht sie, eine in der historischen Pflegeforschung bestehende Forschungslücke aufgreifend, insbesondere der Frage nach, welche Rolle die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderung im Arbeitsalltag der pflegenden Frauen in dieser Zeit spielte und wie die in der Obhut von Pflegerinnen stehenden Menschen durch die Hand von Pflegerinnen ermordet wurden.
Die Untersuchung, bei der es sich um die überarbeitete und erweiterte Version ihrer im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Geschichte an der Universität Kassel vorgelegten Wissenschaftlichen Hausarbeit „Die Pflegerinnen der Landesheilanstalt Merxhausen in der Zeit des Nationalsozialismus“ (Kassel 2015) handelt, erscheint im Verlag „kassel university press“ (kup), dem Eigenverlag der Universität Kassel, der qualitätsgeprüfte wissenschaftliche Publikationen von Kasseler Forschenden veröffentlicht; neben (kostenpflichtigen) gedruckten Exemplaren auch (kostenfrei) Open Access, im vorliegenden Fall unter: https://kobra.uni-kassel.de/handle/123456789/14249.
Für ihr Forschungsprojekt hat die Autorin aus den historischen Landesteilen des heutigen Bundeslandes Hessen jeweils zwei Anstalten ausgewählt: Die Landesheil- und Pflegeanstalten Gießen und das Philippshospital für den Volksstaat Hessen, die Landesheilanstalten Merxhausen und Marburg für den Regierungsbezirk Kassel der Provinz Hessen-Nassau sowie die Landesheilanstalten Eichberg und Hadamar für den Regierungsbezirk Wiesbaden derselben Provinz. Während darunter jeweils eine Anstalt aus ländlichen Gebieten und aus einem urbanen Gebiet Berücksichtigung fanden, wählte sie die beiden Tötungsanstalten Hadamar und Eichberg aufgrund ihrer Funktion aus.
In ihrer Darstellung stützt sich Jamila Aiyana Roth auf umfangreiche Literatur, zeitgenössische Fachzeitschriften und vor allem Archivalien aus verschiedenen Archiven. Zu nennen sind hier zunächst einmal die entsprechenden Akten der Landesheilanstalten Merxhausen, Marburg, Gießen, Hadamar, Eichberg und des Philippshospitals, die im Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen in den Beständen 10 (Eichberg), 11 (Gießen), 12 (Hadamar), 16 (Marburg), 17 (Merxhausen) und 18 (Philippshospital) erfasst sind. Neben Sachakten, die dezidierte Auskünfte über Dienstanweisungen, Arbeitszeiten, Besoldung des Pflegepersonals, Informationen zur Anstaltsbibliothek, Filme, Festlichkeiten und Besuche, Belegungsstatistiken, Dokumente der Geschäftsführung und dergleichen geben, nahm sie auch die zahlreichen Personal- und Versorgungsakten der einzelnen ehemaligen Mitarbeiterinnen (Bestand 100) in den Blick. Darüber hinaus wertete die Autorin die Prozessakten der hessischen Nachkriegsprozesse aus, die heute im Hessischen Landesarchiv (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden) lagern. Weitere für ihr Thema relevante Archivalien konnte sie im Bundesarchiv Berlin, im Landesarchiv Berlin, im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt und im Stadtarchiv Gießen in Augenschein nehmen.
Die Studie beziehungsweise das vorliegende Buch, das dem Rezensenten lediglich in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt wurde, umfasst vier Teile, die einschließlich Vorwort (S. 10) und Einleitung (S. 12-47) insgesamt 12 Kapitel umfassen, die ihrerseits in zahlreiche Unterkapitel untergliedert sind. Einleitend weist Jamila Aiyana Roth darauf hin, dass die Anstalten auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen in hohem Maße an dem Programm der Krankenmorde beteiligt waren: „In den zahlreichen Anstalten der hessischen Gebiete wurden Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen gezielt getötet“ (S. 14). Die Landesheilanstalt Hadamar habe dabei als überregionales Tötungszentrum reichsweit eine zentrale Rolle gespielt. Die Pflegerinnen der Anstalten seien an der Durchführung dieser Verbrechen in unterschiedlicher Weise beteiligt gewesen. Ohne ihre Zuarbeit seien diese Taten nicht möglich gewesen, weil sie für die konkrete Ausführung der Mordpolitik verantwortlich waren. Demnach bereiteten die Pflegerinnen die Patientinnen für die Abreise in die Zwischen- und Tötungsanstalten vor, begleiteten sie teilweise dorthin und verabreichten die tödlichen Medikamente.
Vor diesem Hintergrund geht die Autorin in ihrer Untersuchung der leitenden Frage nach, „welche Rolle die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen im Arbeitsalltag der pflegenden Frauen in den heute hessischen Landesheilanstalten in dieser Zeit spielte, und wie diese vor Gericht nach 1945 ihre Vergangenheit so reflektierten und deuteten, dass daraus ein ‚sinnvolles‘ und ‚gutes‘ Leben wurde“ (S. 15). Darüber hinaus untersucht sie, wie die Pflegerinnen ihr Verhalten während der Verbrechen in den Gerichtsverfahren nach 1945 rechtfertigten und welche Bedeutung ihr Geschlecht sowie die zeitgenössischen Vorstellungen hiervon für die Rechtsprechung hatten.
Um die Lebenssituation der Pflegerinnen nachvollziehen zu können, untersucht Jamila Aiyana Roth zunächst die Rahmenbedingungen wie etwa Gehalt, Pension, Urlaub, Kost und Logis, Ausbildung der Pflegerinnen sowie ihre Dienstkleidung als gemeinschaftsstiftendes Instrument. Zugleich erhebt sie zum Arbeitsalltag der Pflegerinnen einige kollektive Daten, wie z. B. Eintritts- und Austrittsalter, Konfession, Familienstand, Einzugsbereiche der einzelnen Anstalten sowie die soziale Stellung der Herkunftsfamilie, wobei sie die Karrierewege von Oberpflegerinnen gesondert analysiert. In diesem Zusammenhang schaut sie auch auf die Zugehörigkeit zu NS-Organisationen und deren Auswirkung auf die „Karriere“ der Pflegerinnen, geht den Auswirkungen der allgemeinen Extremsituation in den Anstalten auf die Gesundheit der Pflegerinnen und dem Umgang mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Pflegepersonal nach und untersucht, wie sich die Pflegerinnen untereinander und im Hinblick auf Geschlechterhierarchien verhielten: Wie wurde mit Streitigkeiten umgegangen? Wie wirkte sich die Lebensmittelknappheit während des Krieges auf die Situation der weiblichen Pflegenden aus?
Abgesehen von der Frage nach dem Umgang mit Mutterschaft unter verheirateten und unverheirateten Pflegerinnen nimmt die Autorin auch die Anforderungen an die Pflegerinnen vonseiten der nationalsozialistischen Gesellschaft, aber auch von den Anstalten selbst in den Blick. Außerdem betrachtet sie, welches Selbstbild und Selbstverständnis die Pflegerinnen hatten, weil dies einen Einblick in Handlungsmuster und Einstellungen ermöglicht. Neben den Netzwerken der einzelnen hessischen Anstalten und deren Verbindungen mit der sogenannten T4-Zentrale in Berlin, geht sie auch der Frage nach den Unterschieden unter dem weiblichen Pflegepersonal in den einzelnen hessischen Anstalten in ländlichen oder urbanen Gebieten nach, analysiert die Auswirkungen der unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Anstalten als sogenannte „Zwischenanstalten“ oder „Tötungsanstalten“ und zeigt die konkrete Beteiligung der Pflegerinnen an den dort verübten Verbrechen auf.
Um die Frage nach dem Einfluss der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auf den Arbeitsalltag der Pflegerinnen in den hessischen Landesheilanstalten beantworten zu können, beleuchtet Jamila Aiyana Roth zunächst in Kapitel 3 die Geschichte der ausgewählten hessischen Landesheilanstalten vor und nach 1933, wobei sie insbesondere ihre Organisation und Trägerschaft, ihre Lage, ihren Bau und ihre Ausstattung vorstellt (S. 48-95).
Im anschließenden Kapitel 4 über „Die Geschichte der Pflege und ihre besonderen Rahmenbedingungen in der Zeit des Nationalsozialismus“ (S. 97-123) betrachtet die Autorin unter anderem die Psychiatrischen Einrichtungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, wobei sie auch nach der Bedeutung von Eugenik und Rassenhygiene für das Pflegepersonal fragt und auf die Kranken und ihre Wege in die Landesheilanstalten sowie ihre medizinische Behandlung einschließlich der zeitgenössischen Arbeitstherapie schaut.
Die Pflegerinnen der hessischen Landesheilanstalten waren an der „Euthanasie“ und den Zwangssterilisationen „aktiv beteiligt“. Sie hatten, wie Jamila Aiyana Roth etwa an Hand der Prüfungsantworten in den Personalakten zeigen kann, „das eugenische und ‚rassenhygienische‘ Gedankengut der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik verinnerlicht und handelten in der Mehrheit dementsprechend.“ Eugenik und „Rassenhygiene“ waren demnach „Grundpfeiler des Krankheitsverständnisses der Pflegerinnen, wenn sie auch in wenigen Einzelfällen selbst Opfer dieses Denkens und der damit verbundenen Politik wurden, wenn sie sich nicht erwartungsgemäß verhielten oder auffällig wurden. Die Theorien der Eugenik und ‚Rassenhygiene‘ lieferten dem Pflegepersonal eine scheinbar wissenschaftliche Legitimation für dessen Umgang mit den Kranken. Zugleich diente dieses Gedankengut als Besänftigung für das eigene schlechte Gewissen“ (S. 103).
Nach 1945 seien, so die Autorin, nur wenige der Pflegerinnen (und der Pfleger) vor Gericht gestellt und noch weniger verurteilt worden. So vertrat beispielsweise am 28. Januar 1948 das Frankfurter Schwurgericht über sechs Pflegekräfte, die unter anderem in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar gearbeitet hatten, die Ansicht, sie hätten „lange Jahre, teilweise Jahrzehnte ihres Lebens dem Dienst in der Krankenpflege gewidmet, insbesondere in der besonders undankbaren Irrenpflege […]. Der Staat, dessen Propaganda sie jahrelang ausgesetzt gewesen waren, verlangte von ihnen, Unrecht zu tun. Ihre ärztlichen Vorgesetzten [...] gingen ihnen auf dem Weg des Unrechts voran“ (S. 122).
In Kapitel 5 betrachtet Jamila Aiyana Roth die spezifischen Rahmenbedingungen, denen die Pflegerinnen in den hessischen Landesheilanstalten im Nationalsozialismus ausgesetzt waren (S. 124-235), wobei die Gleichschaltung der Pflegeorganisationen und die Veränderungen in der Personalverwaltung des Pflegepersonals eine besondere Rolle spielten. Während die Krankenpflegegewerkschaften zerschlagen und die Krankenpflege „arisiert“ wurde, habe die NS-Schwesternschaft die „Elite der Deutschen Schwestern“ gebildet. Zugleich habe die „Entkirchlichung der Pflege“ eine Stärkung des staatlichen Einflusses auf die Anstalten zur Folge gehabt, indem die staatlichen Pflegerinnen – im Gegensatz zu den konfessionellen Pflegerinnen – nur dem NS-Staat verpflichtet waren und weniger durch die Kirchen beeinflusst wurden, was „die Bereitschaft zur Durchführung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik und den Krankenmorden“ (S. 129) erhöhte.
Anhand der Hausordnungen der Landesheilanstalten und deren Bedeutung für den Pflegealltag zeigt die Autorin sodann, welche Macht die jeweiligen Direktoren der einzelnen Anstalten innehatten: „Sie hatten faktisch die Entscheidungsmacht über jegliche Fragen aller Lebensbereiche. Sie setzten den Tagesrhythmus fest, entschieden über die Art der Arbeit und ferner, ob und in welchem Umfang Freizeit gewährt wurde. Die Direktoren waren zudem über sämtliche Vorgänge innerhalb der Anstalt gut unterrichtet und herrschten, einem Diktator gleich, über ihre Anstalt und deren Bewohner“ (S. 137).
Das Verhältnis der Pflegerinnen zum Direktor und zu den Ärzten war laut Jamila Aiyana Roth „ein patriarchalisches und durch Abhängigkeit geprägtes“ (S. 150). Bereits in der Ausbildung der Pflegerinnen sei „der bedingungslose Gehorsam gegenüber den Ärzten systematisch verankert“ (S. 153) gewesen – und zwar mit fatalen Folgen: „Die berufliche Pflicht zur ‚kritiklosen Unterordnung‘ und ‚Fügsamkeit‘ und bei manchen wohl auch die Begierde, selbst über eine ähnlich große Macht zu verfügen, wie sie sonst Ärztinnen und Ärzten zukam, machte diese im Gehorsam geschulten Pflegepersonen zu unentbehrlichen Vollstreckern ärztlich angeordneter Tötungsaufträge“ (S. 154). Hinzu sei die Tatsache gekommen, dass es sich bei den Ärzten um Männer handelte und die Pflegerinnen ihnen allein aufgrund dessen gesellschaftlich gesehen unterlegen waren.
Unterdessen waren die Anforderungen, die der alltägliche Dienst in den Landesheilanstalten an die Pflegerinnen stellte, „anspruchsvoll“ (S. 160). So mussten sie nicht nur lange Arbeitstage mit wenig Urlaub und Erholungsmöglichkeiten dulden, sondern auch schwere körperliche Arbeit leisten. Dabei waren die Pflegerinnen der Landesheilanstalten, laut der NS-Propaganda, „politische Soldaten“ im Kampf um die Gesundheit des deutschen Volkskörpers. Die Aussagen in den Nachkriegsprozessen zeigten, so die Autorin, „dass sich die Pflegerinnen in erster Linie als Arbeitnehmerinnen sahen oder im Falle der Oberpflegerinnen noch mehr als Beamte, die ihre Dienstpflicht versahen und ihren Vorgesetzten Gehorsam leisteten“ (S. 182). Ihr Privatleben in den Anstalten unterlag einer Vielzahl von Vorschriften und Regulierungen. So ist von der Landesheilanstalt Hadamar überliefert, dass besonders zu Anfang der ersten Tötungsphase die Beteiligten „militärischen Gepflogenheiten“ unterworfen wurden, um sie einzuschüchtern und im Mordbetrieb Gruppendruck zu erzeugen“ (217).
Wie Jamila Aiyana Roth im Kapitel 6 zeigt, in dem sie anhand der Arbeitszeiten und Urlaubsregelungen die Arbeitsbedingungen und den Pflegealltag der Pflegerinnen in den hessischen Landesheilanstalten in der NS-Zeit untersucht (S. 236-267), diente der Alltag in den Tötungsanstalten der Aufrechterhaltung des Anstalts- und somit des Tötungsbetriebes: „Die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen war gelebter Pflegealltag in diesen Einrichtungen“ (S. 267).
In Kapitel 7 stellt die Autorin Fallstudien zu den Pflegerinnen der Landesheilanstalten vor um zu verdeutlichen, wie sich die Rahmenbedingungen und die Arbeitsbedingungen auf den Alltag der Pflegerinnen auswirkten (S. 268-313). Zu der anonymen Datenmasse des Sozialprofils und der statistischen Erhebungen treten somit konkrete Einzelschicksale, die die Arbeit und das Leben in den Anstalten näher beleuchten. Die ausgewählten Pflegerinnen stellen dabei insofern eine Besonderheit dar, als ihre Personal- und Versorgungsakten aufgrund besonderer Vorkommnisse ungewöhnlich umfangreich überliefert sind.
Nach den Ausführungen von Jamila Aiyana Roth in Kapitel 8, in dem sie sich mit der „Aktion T4“ sowie der zweiten Phase der NS-„Euthanasie“ in den hessischen Landesheilanstalten beschäftigt (S. 314-320), spielte das Pflegepersonal eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Krankenmorde im Rahmen der „Aktion T4“. Das Pflegepersonal war demnach sowohl in das Ausfüllen der „T4“-Meldebögen mit einbezogen, bereitete die Kranken auf die Verlegung vor, half beim Abtransport mit den „grauen Bussen“ und begleitete Transporte in die Zwischenanstalten. Demgegenüber wurde „organisierter pflegerischer Widerstand in den untersuchten hessischen Landesheilanstalten bei den Pflegerinnen nicht gefunden“ (S. 318).
Während die Autorin in Kapitel 9 die Entnazifizierung des Personals sowie dessen Kontinuitäten (S. 322-332) betrachtet, beleuchtet sie in Kapitel 10 die Krankenmorde im Spiegel der Nachkriegsprozesse (S. 333-362). Das Lesen der Spruchkammer- und Nachkriegsprozessakten habe dabei bei ihr den Eindruck erweckt, dass es sich bei den Pflegerinnen der untersuchten hessischen Landesheilanstalten „durchweg mehr um Opportunistinnen und Mitläuferinnen gehandelt hat als um überzeugte Nationalsozialistinnen“ (S. 331). Die Frauen hätten versucht, sich nach dem Krieg so gut wie möglich zu entlasten. Was die Krankenmorde betrifft, so seien einige wenige Pflegerinnen ihrer Auffassung von der Rechtmäßigkeit dieser Morde selbst vor Gericht treu geblieben.
Wie die Ausführungen von Jamila Aiyana Roth belegen, waren im Gesundheits- und Fürsorgebereich Frauen unter anderem in führenden Positionen maßgeblich an den Krankenmorden und Zwangssterilisierungen beteiligt. Diese hätten dabei nicht aus Sadismus, Lust oder anderen niederen Beweggründen getötet, sondern aus „Nächstenliebe“, „Mitleid“ und „Medizinischer Notwendigkeit“ (S. 358), also gemäß vermeintlich typisch weiblicher Eigenschaften. Aus heutiger Sicht könne darüber diskutiert werden, ob alle beteiligten Pflegerinnen Täterinnen sind, da sie Teil der Tötungsmaschinerie waren und von den Morden Kenntnis hatten. Des Weiteren bleibe zu fragen, ob sich Pflegerinnen für die Begleitung der Krankentransporte in die Tötungs- und Zwischenanstalten verantworten müssten.
Während die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2010 in einer Gedenkveranstaltung der Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus gedachte, beklagt die Autorin in ihrem „Ausblick“ in Kapitel 11 (S. 363-371) zu Recht, dass es eine vergleichbare Aktion der Sühne und des Gedenkens von deutschen Pflegeverbänden bis heute nicht gibt. Nach einem kurzen Überblick über Angebote der Gedenkstätten und Museen geht Jamila Aiyana Roth der Frage nach, welche Rolle die NS-Vergangenheit in der heutigen Pflegeausbildung spielt. Da die Krankenmorde der Nationalsozialisten kein verpflichtender Unterrichtsinhalt in der Ausbildung heutiger Pfleger*innen ist sei anzunehmen, dass einige Pflegekräfte nur unzureichend über diesen Aspekt der Pflegegeschichte informiert sind. Angesichts dieser Tatsachen und in Hinblick auf die Prävention gelte es zu diskutieren, „ob eine verpflichtende Beschäftigung mit dem NS-Krankenmord in der Pflegeausbildung nicht angemessen wäre“ (S. 368).
In ihrem „Fazit“ in Kapitel 12 (S. 373-394) weist die Autorin zunächst darauf hin, dass zwar zahlreiche Publikationen zu den einzelnen Anstalten des heutigen Bundeslandes Hessen in der Zeit des Nationalsozialismus vorliegen, aber Untersuchungen zum Pflegepersonal in den Landesheilanstalten zu dieser Zeit, die diese als eine soziale Gruppe auffassen, bisher fehlten, ebenso wie eine Kollektivbiographie der Pflegerinnen. Die Untersuchung der Rolle der Pflegerinnen bei den Zwangssterilisationen und Morden habe gezeigt, wie aus vermeintlich ganz normalen, unbescholtenen Bürgerinnen Mörderinnen und deren Helferinnen beziehungsweise Mitwisserinnen werden konnten. Dabei hätten die Pflegerinnen selbst in der Extremsituation der Krankenmorde bis zu einem gewissen Punkt durchaus die Macht gehabt, ihre Pfleglinge vor der Vernichtung zu schützen. Der Beruf der „Irrenpflegerin“ sei zwar mit wenig Ansehen verbunden gewesen, aber dennoch für die Frauen, die ihn ausübten, eine finanziell attraktive Alternative zur Tätigkeit als Haushaltshilfe oder in der Landwirtschaft. Die Tötungsanstalten hätten zudem eine „Sonderzulage“ gezahlt.
Mithilfe der Gleichschaltung und der politischen Säuberung des Pflegepersonals wurde, so Jamila Aiyana Roth, ein Heer williger „politischer Soldaten“ im Gesundheitsbereich geschaffen, das zudem mit der entsprechenden NS-Gesundheitspropaganda versorgt und motiviert wurde. Aufgrund ihrer Untersuchung und die dadurch gewonnenen Erkenntnisse könne sie das gängige Bild der Forschung von „gänzlich hörigen Pflegerinnen in den Landesheilanstalten“ (S. 377) unterstreichen. Die Mehrheit der Pflegenden habe, so die Autorin, ihren Dienst nach Vorschrift getan, selbst wenn dieser Dienst in der Tötung von Kranken bestand: „Sie vertrauten auf die Verantwortung der ihnen vorgesetzten Ärzte und fürchteten negative Konsequenzen bei Ungehorsam oder Verweigerung. Die Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten spielte dabei eine wesentliche Rolle“ (S. 380). Darüber hinaus habe das mangelnde Pflegeethos der Pflegerinnen in den Landesheilanstalten die Gräueltaten begünstigt.
Nach dem Krieg hätten sich die des Mordes angeklagten Frauen vor Gericht vielfach auf einen angeblichen „Befehlsnotstand“ und ihre für diese Zeit übliche Erziehung zum Gehorsam berufen. Zudem hätten sie häufig die Furcht vor Bestrafungen bei Arbeitsverweigerung und Kritik zu ihrer Verteidigung ins Feld geführt. Für Jamila Aiyana Roth handelt es sich bei den Pflegerinnen jedoch nicht um Opfer, da sie die Möglichkeit hatten, den Beruf zu wechseln, sich zu verweigern oder zumindest Kritik zu üben. Anstatt Widerstand zu leisten, hätten sie sich jedoch „für Opportunismus und Hörigkeit“ (S. 391) entschieden.
Ergänzt wird die umfangreiche Darstellung durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen (S. 395-449). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass das „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte. Who was who in nursing history“ nicht nur, wie angegeben, von 1997 bis 2012 in sechs Bänden erschien, sondern auch in den Jahren danach – seit 2022 liegt der 10. Band vor. Warum in der mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat ausgestatteten Arbeit lediglich bei Karl Wickel (1870-1949) auf den entsprechenden Beitrag in dem besagten Lexikon verwiesen wird, nicht aber auch bei den namentlich im Text erwähnten Personen Konrad Alt (1861-1922), Valentin Falthauser (1876-1961), Agnes Karll (1868-1927), Sylvelyn Hähner-Rombach (1959-2019), Hilde Steppe (1947-1999), Anna Bertha Königsegg (1883-1948), Maria Restitutia (Helene Kafka) (1894-1943), Gertrud Scholtz-Klink (1902-1999) und Ludwig Scholz (1968-1918) ist unverständlich. In jedem Fall hätte man sich in einer pflegehistorischen Arbeit Hinweise auf die betreffenden Beiträge im „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte“ über die genannten, an den „Euthanasie“-Verbrechen unmittelbar beteiligten Pflegepersonen Katharina (Käte) Gumbmann (1898-1985), Irmgard Huber (1901-1974), Heinrich Ruoff (1887-1946), Helene Schürg (1904-1975), Karl Willig (1894-1946) und Minna Zachow (1893-1977) gewünscht, zumal sich dort auch Angaben zu deren Wirken nach der NS-Zeit bis zu ihrem Tod finden.
Sieht man hiervon einmal ab, hat Jamila Aiyana Roth insgesamt betrachtet mit der vorliegenden Studie einen wichtigen Beitrag zur Frauen- und Gendergeschichte geleistet, ebenso wie zur Forschung über die NS-„Euthanasie“ und zur Generationengeschichte. Im Hinblick auf die Geschichte der Krankenpflege reicht die Bedeutung ihrer Arbeit, der eine große Leserschaft vor allem unter den Pflegepersonen zu wünschen ist, weit über Hessen und die untersuchten Anstalten hinaus. In den entsprechenden Ausbildungseinrichtungen und Studiengängen sollte die Veröffentlichung zur Pflichtlektüre gehören.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling