Landarmenanstalt – Fürsorgeheim – psychiatrische Klinik: Streifzüge durch 100 Jahre Geschichte und Gegenwart

KBO ISAR AMPER KLINIKUM Landarmenanstaltvon Kbo-Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen an der Vils (Hrsg.)
Bildungswerk Irsee, Impulse Band 17, Grizeto Verlag, Irsee, 2021, 227 Seiten, broschiert, 15,80 €, ISBN 978-3-9821217-3-4

 

Beim kbo-Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen (Vils), einer akademischen Lehreinrichtung der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Technischen Universität München, handelt es sich heute um eine Vollversorgungsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Kliniken des Bezirks Oberbayern (kbo) in Taufkirchen im oberbayerischen Landkreis Erding (vgl. https://kbo-iak.de). Das Krankenhaus, das seit 1987 auch eine Berufsfachschule für Pflege des Bezirks Oberbayern beheimatet, teilt sich in die Fachbereiche Allgemeinpsychiatrie I (mit je einer geschlossenen und offenen Akutstation, sowie der neuropsychiatrischen Station mit dem Huntington-Zentrum Süd), Allgemeinpsychiatrie II (mit einer offenen Psychotherapiestation, je einer offenen und geschlossenen Station für Suchtkranke und zwei gerontopsychiatrischen Stationen) und die forensische Frauenabteilung auf.

Anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens im Jahre 2021 – im Mai 1921 war der erste „Pflegling“, wie damals Patienten genannt wurden, in der damaligen Landesarmenanstalt aufgenommen worden – gab die weit über die Stadtgrenzen hinaus bedeutende Einrichtung die Schrift „Landarmenanstalt – Fürsorgeheim – psychiatrische Klinik. Streifzüge durch 100 Jahre Geschichte und Gegenwart“ heraus, in der drei Autoren ein Jahrhundert psychiatrische Gesundheitsversorgung in Taufkirchen an der Vils erkunden. Sie zeichnen dabei die bewegte Geschichte einer Einrichtung nach, die in der Weimarer Republik vom damaligen Landarmenverband Oberbayern gegründet wurde und sehr bald zu einem Fürsorgeheim mit „Arbeitszwangshäftlingen“ mutierte.

Neben einem Geleit- und Grußwort von Josef Mederer (Bezirkstagspräsident von Oberbayern) und Stefan Haberl (Erster Bürgermeister von Taufkirchen) (S. 7 – 12) enthält das Buch auch ein Vorwort von Geschäftsführer Franz Podechtl, Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Peter Brieger, stellvertretende Pflegedirektorin Brigitta Wermuth und Standortleiter Rudolf Dengler in dem sie zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung betonen, dass aller aktuellen Erfolge zum Trotz nicht vergessen werden darf, dass die Verbrechen der NS-Diktatur auch heute noch spür- und sichtbar sind: „Die Aufarbeitung dieses dunkelsten Kapitels unserer Klinikgeschichte ist ein hohes Gut, dem wir uns als Direktorium verpflichtet haben“ (S. 9).

Das mit einigen Schwarzweiß-Abbildungen illustrierte Buch, das als Band 17 in der vom Bildungswerk Irsee (https://bildungswerk-irsee.de) herausgegebenen Schriftenreihe „Impulse“ erscheint, gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil (S. 12 – 195), der zugleich der mit großem Abstand umfangreichste ist, stellt der Historiker und Psychiatriepfleger Christian Pfleger – gestützt auch Archivalien, unter anderem aus dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München sowie den Staatsarchiven München und Nürnberg – die Geschichte der Anstalt in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus vor. Drei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918), mitten hinein in die heftigen politischen Auseinandersetzungen und die beginnende wirtschaftliche Katastrophe der Weimarer Republik, hatte die Landesarmenanstalt ihre Pforte geöffnet. Auch wenn bereits 1924 der Name der Einrichtung in Landesfürsorgeanstalt geändert wurde, blieben die Aufgaben doch gleich: stationär ausgerichtete und arrangierte Hilfserbringung für unterstützungsbedürftige Menschen. Der Bedarf war hoch: Neben der Fürsorgepflicht gegenüber den sogenannten Landarmen – Notleidende ohne Unterstützungswohnsitz – trug man die Verantwortung für die Gewährleistung und Ausführung der Anstaltspflege, welche sich auf „hilfsbedürftige Geisteskranke, Geistesschwache, Blöde, Epileptische, Blinde, Taubstumme, Krüppelhafte und unheilbare, abschreckend oder ansteckend kranke Sieche“ bezog. Wie der Autor zeigt, verkörperte die damalige Landesfürsorgeanstalt „eine multifunktionelle anstaltliche Mischform aus Pflege- und Altenheim, aus Obdachlosenasyl und Armenhaus, aus Siechenanstalt und Hospiz“, in der die „erforderliche Versorgung garantiert, notwendige Pflege geleistet und auferlegte Verwahrung verbürgt“ (S. 23) wurden. Bei aller Vielfalt der Biografien und Leidensformate hätten sich die „Pfleglinge“ simplifizierend und grobmaschig zwei maßgeblichen Gruppen zuordnen lassen: den „Siechen und den Geistesschwachen“. Neben typisch geistigen und körperlichen Alterskrankheiten wie Folgeerscheinungen der Arteriosklerose, die häufig eine Aufnahme legitimiert hätten, seien oftmals auch Menschen mit Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates und damit einhergehender Arbeitsunfähigkeit – zeitspezifisch in der Regel als „Krüppel“ bezeichnet – anstaltspflegebedürftig geworden.

Die Alltagsrealität der Elisabethinnen aus dem Kloster Azlburg (vgl. http://kloster-azlburg.de), in deren Hände der Landarmenrat die Leitung der Anstalt gelegt hatte, war nach Darstellung des Autors beherrscht vom streng kalkulierten und akkurat bemessenen Einsatz der begrenzten Personalressourcen im Angesicht einer Ansammlung von Dienstobliegenheiten: „Die Arbeitsbedingungen waren nicht nur mühevoll und anstrengend, die Schwestern waren einer beträchtlichen Gesundheitsgefährdung ausgesetzt. Mehrfach wurde bei einigen von ihnen durch den Anstaltsarzt der Verdacht der Schwindsucht diagnostiziert. Der Dienst am Nächsten verlangte den Schwestern viel Hingabe- und Opferbereitschaft ab“ (S. 27).

In der weiteren Darstellung nehmen sodann die Aufarbeitung der Verstrickungen in die NS-Erbgesundheitspolitik und die „Euthanasie“-Morde breiten Raum ein, die in der Vorgänger-Publikation „60 Jahre Bezirkskrankenhaus Taufkirchen (Vils)“ von 1981 noch nicht im Blick waren. Danach wurden, neben 51 Taufkirchener „Pfleglingen“ – 30 Männer und 21 Frauen –, die aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 der Zwangssterilisation zum Opfer fielen (S. 102), am 21. Oktober 1940  94 „Pfleglinge“, 37 Männer und 57 Frauen, aus der damaligen Landesfürsorgeanstalt Taufkirchen (Vils) im Rahmen der „Aktion T4“ – dem systematischen Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 unter Leitung der Zentraldienststelle T4 in Berlin (Tiergartenstraße 4) – gegen ihren Willen in die damalige Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar (bei München) gebracht (S. 114). 68 dieser Menschen wurden am 25. Februar 1941 in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz (Oberösterreich) deportiert und dort ermordet (S. 193 – 194), weil die Nationalsozialisten sie als „Ballast“ und „unwertes Leben“ betrachteten. Weitere zehn „Pfleglinge“ starben in den sogenannten „Hungerhäusern“ in Eglfing-Haar einen grausamen Tod (S. 195). Wie in zahlreichen anderen psychiatrischen Einrichtungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) die Schicksale der Opfer aus Taufkirchen ignoriert, während die Täter unbehelligt weiterleben konnten.

Der zweite Teil des Buches (S. 199 – 223), der die Anstalt in der Zeit nach 1945 in den Blick nimmt, besteht aus zwei Beiträgen. Darin berichten aus erfahrungsgesättigter Zeitzeugen-Perspektive der ehemalige ärztliche Direktor Prof. Dr. Matthias Dose (1992 – 2014) und der Leiter der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit des kbo-Isar-Amper-Klinikum Region München, Henner Lüttecke, über den – bedingt durch die Psychiatrie-Enquête und die Reformen in der psychiatrischen Versorgung seit Mitte der 1970er Jahre – Aufstieg der Einrichtung zu einem renommierten, modernen psychiatrischen Fachkrankenhaus, das nicht nur durch das einzigartige, 1998 gegründete Huntington-Zentrum Süd besondere Reputation genießt. Wie im ersten Teil wurde auch hier auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat mit Belegen und weiterführen Hinweisen verzichtet.

Wenngleich Jubiläen bekanntlich immer wieder Anlass bieten, auf Vergangenes zurückzublicken und historische Ereignisse als Teil der eigenen Geschichte, der eigenen Identität zu begreifen und gegenwärtig zu machen sowie das Geschaffene für die Nachwelt zu dokumentieren, verzichten viele Institutionen, Firmen oder Vereine – scheinbar aus fehlendem historischem Bewusstsein oder unter Verweis auf die dabei anfallenden Kosten – auf entsprechende Publikationen. Nicht so das kbo-Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen an der Vils. Die von ihm anlässlich seines runden Jubiläums unter der Überschrift „Landarmenanstalt – Fürsorgeheim – psychiatrische Klinik“ herausgegebenen „Streifzüge durch 100 Jahre Geschichte und Gegenwart“ gewähren tiefe Einblicke in die wechselvolle medizinische und pflegerische Versorgung der Einrichtung, wobei (erstmals) auch das traurigste Kapitel – das Geschehen während der NS-Zeit – in den Blick genommen wurde.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling