In Beziehung sein. Palliative Care und christliche Verantwortung. 20 Porträts aus der Schweiz

HOLDER FRANZ In Beziehung seinvon Martina Holder-Franz, Maria Zinsstag

TVZ Theologischer Verlag Zürich, Zürich, 2021, 200 Seiten, Paperback, 21,90 €, ISBN 978-3-290-18428-5

Seit Ende der 1970er-Jahre setzten sich weltweit Personen in Krankenhäusern und Gesundheitsdiensten dafür ein, dass neben ambulanten und stationären Hospizeinrichtungen auch Palliativstationen und ambulante Palliativdienste entstanden. In der Schweiz wurde so 1988 die Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung (SGPMP) gegründet, die sich heute „palliative.ch“ (https://www.palliative.ch/de) nennt, deren Mitglieder aus allen Berufsgruppen stammen, die am Krankenbett tätig sind: Pflegende, Ärztinnen und Ärzte, Seelsorger und Seelsorgerinnen, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeitende, Ernährungsberatende, Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Kunsttherapeutinnen und -therapeuten, Freiwillige und weitere Berufsgruppen. Bereits in den Anfängen entstanden nach Vortragsreisen der in den USA wirkenden Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926 – 2004) und nach Kontakten zu Cicely Saunders (1918 – 2005) in Großbritannien auch verschiedene Freiwilligengruppen und Initiativen für Palliative Care, die anfangs oft von Einzelnen, ihrer Vision und christlichen Motivation getragen wurden.

Unter dem pragmatischen Titel „In Beziehung sein“ stellen Martina Holder-Franz und Maria Zinsstag im vorliegenden Buch zwanzig Portraits von Frauen und Männern mit christlichem Hintergrund vor, die sich in der Schweiz für Palliative Care von den Anfängen bis heute engagier(t)en: Von den Pionierinnen in den Hospizen der 1970er Jahre bis zu den freiwilligen Mitarbeitenden in der heutigen „community care“, von den Ordensschwestern bis zu den Lehrstuhlbeauftragten. Sie geben Auskunft über ihre Erfahrungen, ihre Beweggründe, über das, was erreicht worden ist, und das, was noch zu tun bleibt. Freiwillige kommen dabei ebenso zu Wort wie jene, die sich in Kirche und Wissenschaft professionell mit Palliative Care befassen.

Die beiden Autorinnen, die seit vielen Jahren im Bereich Begleitungen bei Krankheit und Sterben arbeiten: Martina Holder-Franz (Jahrgang 1967) zuerst im Palliativnetzwerk Schweiz, nun in der Sounders Society in Großbritannien und als Pfarrerin in Riehen sowie Übersetzerin und Herausgeberin der Schriften von Cicely Saunders, Maria Zinsstag (Jahrgang 1959) als Alters- und Pflegeheimseelsorgerin in Basel und Gemeindepfarrerin in Delémont, haben hierzu in den Jahren 2019 und 2020 entsprechende Interviews geführt, die sie hier in Ausschnitten wiedergeben. Zur Bedeutung und Intention ihrer Veröffentlichung, deren Drucklegung von der Widmer-Meyer-Stiftung (https://stiftungen.stiftungschweiz.ch/organisation/widmer-meyer-stiftung) gefördert wurde, schreiben sie einleitend: „Unser Anliegen war es, eine möglichst große Breite dessen zu zeigen, was zu Palliative Care gehört: Die Pionierinnen und Pioniere der ersten Stunde ebenso wie diejenigen, die heute die Bewegung tragen und gestalten, die Fachleute in Pflege, Seelsorge und Wissenschaft ebenso wie die Freiwilligen Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort. […] Bei jedem Gespräch haben wir nach der Motivation, der persönlichen Spiritualität, den Erfahrungen und Entwicklungen wie nach Visionen für die Zukunft gefragt. Die Interviewausschnitte möchten den Lesenden die Möglichkeit geben, sich in die Situation und Spiritualität der einzelnen Personen einzufühlen“ (S. 25).

Zugleich machen Martina Holder-Franz und Maria Zinsstag darauf aufmerksam, dass es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten oft Vertreter*innen von Kirchen waren, die die Netzwerke für Palliative Care in der Schweiz aufgebaut haben. Vor dem Hintergrund, dass das christliche Erbe dieser Bewegung derzeit nur wenig Beachtung findet, möchten sie mit dem vorliegenden Buch dieses Erbe in Erinnerung rufen, verbunden mit der Hoffnung, dass sich auch in Zukunft Menschen rufen und berufen lassen, sich als Christinnen und Christen mit anderen zusammen für die Begleitung Schwerkranker und Sterbender einzusetzen.

Nach kürzeren Geleitworten (S. 9 – 10) von Rita Famos (Präsidentin Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz), Markus Büchel (Bischof Bistum St. Gallen, Römisch-Katholische Kirche Schweiz) und Harald Rein (Bischof Christkatholische Kirche der Schweiz) sowie einem Vorwort (S. 11 – 12) von Andrea Bieler (Professorin für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel) geben die Autorinnen zunächst einen kurzen Überblick über die Palliativ- und Hospizbewegung in der Schweiz (S. 27 – 33), bevor sie dann – untergliedert in vier Kapitel – die zwanzig Portraits präsentieren.

Im ersten Kapitel, das unter der Überschrift „Ich hatte das Gefühl, dass sich etwas ändern müsse“ (S. 35 – 85) die Anfänge der Palliative Care in der Schweiz beleuchtet, kommen sechs Personen – Rosette Poletti, Paul und Danielle Beck, Christel Mohler, Luise Thut, Sr. Liliane Juchli (1933 – 2020) sowie Sr. Elisabeth Müggler – zu Wort, die gemeinsam mit anderen innovative Palliativprojekte in der Schweiz lanciert haben. Es ist beeindruckend zu lesen, mit wie viel Einsatz und Risikobereitschaft sie ans Werk gingen und dafür kämpften, dass die Würde von Kranken und Sterbenden erkannt wurde und ins Bewusstsein der Gesellschaft rückte. Während einige der Pionier*innen sich besonders in der Ausbildung engagierten, schufen andere Räume, in denen die Haltung von Palliative Care Gestalt annehmen konnte.

Die vier Interviews – mit Jean-Pierre und Béatrice Monnet, Hans Sollberger, Ruedi Walter sowie Hedi Soder – im zweiten Kapitel „Begleiten braucht oft einfach Zeit und Geduld“ (S. 87 – 109) machen deutlich, in welchem Maß die professionelle Arbeit in der Palliative Care auf freiwilliges Engagement angewiesen ist. Neben Hinweisen auf Angebote für die Aus- und Weiterbildung von Freiwilligen in der Begleitung Schwerkranker und Sterbender belegen die Erfahrungsberichte der Freiwilligen eindrücklich, dass die lokalen Netzwerke oft Orte des Austauschs und der Gemeinschaft sind.

Im dritten Kapitel „Der palliative Weg braucht noch viel Aufklärung“ (S. 111 – 142), in deren Mittelpunkt Caring communities stehen, also Netzwerke, die in einem Dorf oder in einem Stadtteil zum Wohl anderer beitragen, kommen verschiedene Modelle zur Sprache, wie sich in Gegenwart und Zukunft sorgende Gemeinschaft ermöglichen und aufbauen lässt. Die vier hierzu vorgestellten Portraits – von Sr. Beatrice Schweizer, Christoph Vischer, Eva Niedermann und Elisabeth Zahnd – zeigen anschaulich, was einzelne Menschen und Gruppen mit ihrem Ideenreichtum bewirken können.

Im vierten Kapitel „Die ganzheitliche Begleitung interdisziplinär und interprofessionell weiterentwickeln“ (S. 143 – 188) kommen sechs Personen – Lisa Palm, Karin Tschanz, Karin Kaspers-Elekes, Ralph Kunz, Simon Peng-Keller und Phil Larkin – zu Wort, die durch Praxis, Forschung und Lehre die Palliative Care in der Schweiz vorangebracht haben und die Arbeit noch immer aktiv unterstützen. Die hierzu vorgestellten Interviews führen nicht nur vor Augen, dass die ökumenische Ausrichtung und Zusammenarbeit eine Grundvoraussetzung ist, um Palliative Care seitens der Kirchen und kirchlichen Netzwerke zu entwickeln und zu verankern, sondern verdeutlichen auch, welch große Anstrengungen es auch in Zukunft brauchen wird, um den Begleit- und Behandlungsansatz von Palliative Care für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen.

Ergänzt werden die Interviews durch den Beitrag „Füreinander Nächste werden“ (S. 189 – 195), in dem Martina Holder-Franz und Maria Zinsstag – ausgehend vom biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukasevangelium 10, 25 – 37) – alle dazu auffordern, „sich rufen zu lassen, anzupacken und ihre Praxis sorgfältig zu reflektieren“ (S. 190). Für die Autorinnen bedeutet dies konkret, bereit zu sein, von anderen zu lernen, die vielleicht säkulär oder mit einer ungewohnten Form der Spiritualität dazukommen und anpacken, und uns mitzufreuen, wenn lebensfördernde Beziehungen entstehen, Kranken und Sterbenden geholfen wird. Angesichts der Tatsache, dass die großen Kirchen kleiner werden und viele Menschen sich nicht mehr in einer christlichen Gemeinschaft verwurzelt sehen sei es wichtig, Palliative Care in ökumenischer Offenheit zu gestalten und voneinander zu lernen: „Christliche Verantwortung in Palliative Care überschreitet konfessionelle und religiöse Grenzen. Sie ist Salz und Hefe für soziale Verantwortung in unserer Gesellschaft“ (S. 194).

Insgesamt betrachtet gewähren die vorgestellten Porträts einen tiefen Einblick in die Palliativgeschichte der Schweiz und regen zugleich an, darüber nachzudenken, wie chronisch kranke und sterbende Menschen heute in christlicher Verantwortung begleitet werden können. Nicht zuletzt deswegen ist dem lesenswerten Buch weit über die Schweiz hinaus eine weite Verbreitung zu wünschen.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling