Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Band 39

medizin gesellschaft geschichte band 39Marion Baschin (Hrsg.)
Medizin, Gesellschaft und Geschichte 
Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Band 39

Redaktion: Pierre Pfütsch, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021, broschiert, 313 Seiten, 48,20 €, ISBN 978-3-515-13124-7

Das vom Institut für Geschichte der Medizin (IGM) der Robert Bosch Stiftung (RBS) in Stuttgart herausgegebene Jahrbuch „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ (MedGG) bietet ein im deutschen Sprachraum einzigartiges Forum für interdisziplinäre Ansätze, deren gemeinsamer Kern das breite Spektrum einer Sozialgeschichte der Medizin ist, die auch alternative Heilweisen mit einschließt: Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln werden darin historische Aspekte von Gesundheit und Krankheit beleuchtet. Dabei gibt die Reihe, zu der ergänzend – in derselben thematischen Diversität – die Beihefte mit Monographien und Sammelbänden erscheinen, über die Medizin-, Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte hinaus auch Beiträgen aus den Kulturwissenschaften und der Soziologie bis hin zur Kunstgeschichte Raum.

Nachdem der langjährige Institutsleiter des IGM, der Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. h.c. Robert Jütte, der den Aufbau und die Gestaltung der MedGG lange Jahre maßgeblich bestimmt hat, in den Ruhestand verabschiedet wurde, übernahm die Herausgeberschaft mit dem vorliegenden Band 39 (2021) Dr. phil. Marion Baschin, die nach ihrem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Stuttgart 2009/2010 mit der Arbeit „Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln? Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785–1864)“1 promovierte. Anschließend bearbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des IGM der RBS verschiedene Drittmittelprojekte, absolvierte das Referendariat für den höheren Archivdienst am Landesarchiv Baden-Württemberg und an der Archivschule Marburg und übernahm schließlich – in der Nachfolge von Prof. Dr. Martin Dinges – im Juni 2020 die Leitung des IGM als Gesamtarchiv der Robert Bosch Stiftung und ihren Einrichtungen.

Die Redaktion von MedGG liegt unterdessen weiterhin in Händen des Historikers Dr. phil. Pierre Pfütsch, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Präventions- und Geschlechtergeschichte, die Zeitgeschichte der Medizin sowie die Geschichte medizinischer Berufe gehören. Hierzu veröffentlichte er unter anderem (zusammen mit Sylvelyn Hähner-Rombach) den Band „Entwicklungen in der Krankenpflege und in anderen Gesundheitsberufen nach 1945. Ein Lehr- und Studienbuch“ (Frankfurt am Main 2018)2 und gab 2020 (gemeinsam mit Annett Büttner) den Band „Geschichte chirurgischer Assistenzberufe von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“ (Frankfurt am Main 2020) heraus.3

In ihrem Editorial weist Marion Baschin darauf hin, dass Robert Bosch (1861 – 1942) seine privaten finanziellen Mittel und Interessen in vielen, auch unterschiedlichen Themenbereichen gewinnbringend für die Gesellschaft einsetzte. Gleichwohl habe sein Engagement ganz besonders der Medizin und Gesundheitsfragen gegolten, wobei er sich für eine Verbindung verschiedener therapeutischer Ansätze ausgesprochen habe. Diesem Interesse sei das IGM besonders verpflichtet. Zur Bedeutung und Intention der aktuellen Ausgabe des Jahrbuchs hält sie sodann wörtlich fest: „Mit den Schlagworten ‚Medizin, Gesellschaft und Geschichte‘ kann das Erbe Boschs in historischer Perspektive abgebildet werden. Die vorgestellten Beiträge stehen daher für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Robert Boschs und zeigen deren Relevanz für aktuelle Fragen“ (S. 7).

Das Jahrbuch gliedert sich traditionell in zwei Teile. Die Beiträge im ersten Teil („Zur Sozialgeschichte der Medizin“) konzentrieren sich auf die jüngere Geschichte, wobei vier von ihnen aus Forschungsprojekten stammen, die das IGM bis 2020 förderte: Nina Grabe untersucht die Geschichte jüdischer Altersheime in der Nachkriegszeit in Westdeutschland (S. 11 – 56); Martin Dinges betrachtet den Zusammenhang von Arbeit auf die Lebenserwartung von Männern (S. 57 – 92); Sebastian Wenger beleuchtet den Umgang mit gehörlosen Jugendlichen in der Gewerblichen Berufsschule für Gehörlose der Paulinenpflege Winnenden von 1945 bis 1980 (S. 93 – 126); Christine Hartig analysiert Medikamentenversuche in Niedersachsen in den 1950er bis 1970er Jahren (S. 127 – 168); Timo Bonengel erörtert die Entwicklung von Suchttherapien in den USA von 1915 bis 1980 (S. 169 – 207) und Karl-Heinz Reuband befasst sich mit dem Verhalten der Bevölkerung während der EHEC-Pandemie von 2011 (S. 209 – 238).

Die ausführliche Vorstellung aller Beiträge würde den Rahmen der vorliegenden Besprechung sprengen. Von daher sei hier lediglich, da er für die Leserschaft der „Geschichte der Gesundheitsberufe“ von besonderem Interesse sein dürfte, auf den Beitrag von Nina Grabe „Jüdische Altersheime in Westdeutschland“ näher eingegangen.

Die Autorin, die bereits unter anderem die Studien „Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945 – 1975“ (Stuttgart 2016)4 und „Die stationäre Versorgung älterer Displaced Persons und ‚heimatloser Ausländer‘ in Westdeutschland“ (Stuttgart 2020) veröffentlichte, bietet anhand der exemplarisch ausgewählten, 1948 beziehungsweise 1953 eröffneten Häuser in Essen-Werden und Hannover einen Überblick über die Lage der nach Kriegsende in Westdeutschland eingerichteten jüdischen Altersheime. Dabei geht sie unter anderem der Frage nach, welche Gruppe der überlebenden Juden in diesen Heimen Aufnahme fand, aus welchem Grund diese Menschen freiwillig in Deutschland verblieben, wie die gesundheitliche Situation der alten Menschen und das Heimmilieu aussahen und inwieweit sich der Alltag in einer jüdischen beziehungsweise von NS-Opfern bewohnten Einrichtung von demjenigen in anderen deutschen Altersheimen unterschied. Der Beitrag ist dabei umso bedeutender, als sich die Veröffentlichungen zur Geschichte der jüdischen Kranken- und Altenpflege vorwiegend auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) beschränken und die stationäre Versorgung der nach 1945 in Westdeutschland lebenden älteren Juden bislang mit Ausnahme regionaler Forschungsprojekte nur wenig Beachtung fand.

Wie Nina Grabe zeigt, handelte es sich bei den Bewohnern der in ihrer Studie untersuchten jüdischen Heime ausschließlich um Juden deutscher Herkunft, darunter die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager sowie Personen, die im Untergrund beziehungsweise in einem Versteck ihrer Ermordung entgangen waren. Hinzu seien „Rückwanderer“ gekommen, also aus dem Exil zurückkehrende Juden, die ihre Deportation durch eine frühzeitige Flucht ins Ausland verhindert hatten, die Mitte der 1950er Jahre in vielen jüdischen Altersheimen sogar den Großteil der Bewohner stellten. Die meisten jüdischen Überlebenden hätten unter körperlichen und psychischen Beschwerden gelitten, die nicht nur auf ihr hohes Lebensalter zurückzuführen waren, sondern auch im Zusammenhang mit ihrer Verfolgungsgeschichte beziehungsweise ihrer Lagerhaft standen.

Der pflegerische Alltag in den jüdischen Altersheimen unterlag – wie in den christlichen Häusern, so die Autorin, einer mehr oder weniger starken religiösen Prägung, je nachdem, ob es sich um ein liberal oder ein streng rituell geführtes Haus handelte. Selbst wenn eine hohe Anzahl von Altersheimen keine pflegebedürftigen alten Menschen aufnahm, hätten sie nur selten auf krankenpflegerisch ausgebildetes Personal verzichtet. Obwohl sich die Anwerbung von Pflegepersonal innerhalb des gesamten Untersuchungszeitraums als extrem schwierig gestaltete, hätten die Heime in Hannover und Essen-Werden mindestens eine qualifizierte Pflegerin beschäftigt, bei der es sich fast immer um eine examinierte und zumeist jüdische Krankenschwester handelte: „Gemäß der jüdischen Pflegeethik, die sich in ihren Grundzügen nur wenig von der christlichen Pflegetradition unterschied, wurde die pflegerische Betreuung ausschließlich von weiblichem Personal übernommen. Die wenigen männlichen Mitarbeiter waren v. a. als Hausmeister, in der Verwaltung sowie in den Heimvorständen tätig“ (S. 49).

Der zweite Teil („Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen“) vereint drei Beiträge zur Geschichte komplementärer Heilweisen und des Pluralismus in der Medizin: Motzi Eklöf beschreibt die Geschichte des von Per Olof Zetterling gestifteten Legats, um Vorlesungen über die Homöopathie an der Universität von Uppsala zu fördern (S. 241 – 262); Alice Kuzniar verdeutlicht die Verbindung zwischen Literatur und Homöopathie, indem sie den Einfluss von Clemens von Bönninghausen’s Methodik auf die Gedichte Annette von Droste-Hülshoffs analysiert (S. 263 – 289) und Andreas Weigl untersucht die Nutzung und Akzeptanz von Komplementärmedizin anhand der Meinungsforschung in den Jahren von 1970 bis 2010 (S. 291 – 313).

Mit der vorliegenden Ausgabe ist es dem Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung wiederum gelungen, ein lesenswertes Jahrbuch vorzulegen. Sicherlich werden es – über den Wissenschaftsdiskurs hinaus – alle gerne zur Hand nehmen, die sich für die Sozialgeschichte der Medizin sowie die Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen interessieren.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling


 1 Vgl. die Besprechung des Rezensenten unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/10740.php [04.02.2011].

2 Vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 7. Jg., Ausgabe 2-2018, S. 93 – 95; auch online unter: https://www.pflege-wissenschaft.info/nachrichten/rubriken/rezensionen//nachrichten/rubriken/rezensionen/81-pflegejournal/journal-info/rezensionen/11987-entwicklungen-in-der-krankenpflege-und-in-anderen-gesundheitsberufen-nach-1945 [16.10.2018].

3 Vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Gesundheitsberufe. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 10. Jg., Ausgabe 2-2021, S. 92 – 94; auch online unter: https://www.zeitschrift-pflegewissenschaft.de/content/nachrichten/datenbanken/rezensionen

4 Vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 6. Jg., Ausgabe 1-2017, S. 58 – 60; auch online unter: https://www.zeitschrift-pflegewissenschaft.de/content/nachrichten/datenbanken/rezensionen