„… es muß deshalb die Anstalt selbst in gewissem Sinne als ein Universalmittel bezeichnet werden.“

es muß deshalb die Anstalt selbst in gewissem Sinne als ein Universalmittel bezeichnet werden psychiatrie irseeGerald Dobler
„… es muß deshalb die Anstalt selbst in gewissem Sinne als ein Universalmittel bezeichnet werden.“
Theorie und Praxis der Behandlung in der psychiatrischen Anstalt Irsee zwischen 1849 und 1876.

Für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags herausgegeben von Stefan Raueiser und Maike Rotzoll
(Impulse, Band 16), Grizeto Verlag, Irsee 2020, kartoniert, 182 Seiten, 13,80 €, ISBN 978-3-9821217-1-0

Die Kreis-Irrenanstalt Irsee“ des Kreises Schwaben und Neuburg, Vorläufer des Bezirks Schwaben, öffnete am 1. September 1849 nach fast 20-jähriger Planungs- und Bauzeit in den Räumen des säkularisierten Benediktinerklosters Irsee ihre Pforten. Die Einrichtung, die – nach Erlangen 1846 – die zweite zeitgenössisch-moderne sychiatrie Bayerns und die erste Bezirkseinrichtung in Bayerisch Schwaben überhaupt war, diente bis 1972 als Heil- und Pflegeanstalt, bevor sie vor 40 Jahren – nach einer vorausgegangenen, vom Bezirk Schwaben getragenen Generalsanierung von 1974 bis 1981 – als Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum eine neue Aufgabe erhielt. Das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags in Irsee nimmt dabei in der bayerischen Bildungslandschaft eine herausragende Stellung ein, gibt es doch kein zweites Fort- und Weiterbildungsinstitut im Freistaat, ja in der Bundesrepublik, das sich so konsequent auf die Fachbereiche Psychiatrie, Neurologie und überörtliche Sozialhilfe spezialisiert hat.

Sich seiner historischen Bedeutung und Verantwortung bewusst, bietet die Einrichtung nicht nur regelmäßig ein breites Kursangebot und eine Vielzahl von Seminaren für Ärzte, Psychologen und therapeutische Dienste sowie Pflegende an, sie verantwortet auch eine eigene, sehr beachtliche Schriftenreihe, die programmatisch „IMPULSE“ heißt, in der sie Forschungsergebnisse zur mehr als 120-jährigen Psychiatrie- und Anstaltsgeschichte des säkularisierten Klosters Irsee facettenreich darlegt und dokumentiert. Der jüngst erschienene Band 16 der Reihe beschäftigt sich so mit den Behandlungsmethoden in der „Kreis-Irrenanstalt Irsee“ von ihrer Gründung 1849 bis zur Eröffnung des Neubaus der Heilanstalt Kaufbeuren 1876 (wodurch Irsee zur Zweigstelle und Pflegeanstalt wurde und seither nicht mehr über das volle Spektrum an Patient*innen und damit auch der Behandlungsmethoden verfügte). Von besonderem Interesse sind dabei die Ausstattung der Anstalt unter den ersten beiden Ärztlichen Leitern Friedrich Wilhelm Hagen und Johann Michael Kiderle, der Alltag der Patient*innen sowie die Theorie und Praxis ihrer Behandlung. Herzstück der Darstellung bilden ausgewählte Fallbeispiele von Patient*innen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, Konfessionen und mit ganz unterschiedlichen Diagnosen und Patient*innenkarrieren, die anhand der historischen Krankengeschichten mit ausführlichen Originalzitaten
vorgestellt werden.

Verfasst wurde der für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags von Dr. theol. Stefan Raueiser und Prof. Dr. med. Maike Rotzoll herausgegebene Band von dem Historiker Dr. phil. Gerald Dobler, dem die Einrichtung bestens vertraut ist, hat er zu ihr doch schon die Studien „Von Irsee nach Kaufbeuren. Die Erweiterungsplanungen der Kreisirrenanstalt Irsee ab 1865 bis zum Neubau der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren 1872“ (Irsee 2013)1, „Warum Irsee? Die Gründungsgeschichte der Kreis-Irrenanstalt Irsee vom Ende der 1820er Jahre bis zur Eröffnung 1849 und ihr Ausbau bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts“ (Irsee 2014)2 und „Was wird aus Irsee? Die Geschichte der Psychiatrie in Irsee – von der Eröffnung des Neubaus in Kaufbeuren 1876 bis zur Schließung der Irseer Anstalt im Jahre 1972“
(Irsee 2016) vorgelegt.

Franz Löffler, Präsident des Bayerischen Bezirketags, hat zu dem Buch ein Geleitwort beigesteuert, in dem er darauf hinweist, dass bei der Eröffnung der „Kreis-Irrenanstalt Irsee“ am 1. September 1849 bereits die drei Grundsätze „Non restraint“, „open door“ und „Therapie statt Verwahrung“, nach denen die Anstalt geführt werden sollte, in der Diskussion waren. Bei diesen Leitgedanken, die in der deutschen Psychiatrie zum Teil erst Jahrzehnte später umgesetzt worden seien, habe es nicht nur immer wieder Rückschläge gegeben, sie würden uns auch noch heute beschäftigen: „Möglichst auf Zwangsmittel im Umgang mit Patientinnen und Patienten verzichten, möglichst wenig ‚beschützend’, stattdessen umfassend ‚offen’ zu arbeiten, und die Psychiatrie nicht als ein Ort gesellschaftlicher Disziplinierung zu missbrauchen, sondern als Ort individueller Therapie und personenzentrierter Behandlung
zu verstehen“ (S. 8).

In seinem Editorial weist Stefan Raueiser, Leiter des Bildungswerks des Bayerischen Bezirketags und des Schwäbischen Bildungszentrums Kloster Irsee, darauf hin, dass das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags – nach Veröffentlichungen zu den Opfern der nationalsozialistischen Patientenmorde3 und zeitgenössischen Aspekten der psychiatrischen Gesundheitsversorgung im Freistaat – mit der vorliegenden Untersuchung zu Theorie und Praxis der Behandlung in den Anfangsjahren der ersten stationären Psychiatrie in Bayerisch Schwaben „unsicheres Terrain“ betrete, blicke „der aktuelle Band doch zurück auf die Anfänge einer medizinischen Teildisziplin und einer sich institutionalisierenden Gesundheitsfürsorge im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts – in die Zeit der beginnenden Anstaltspsychiatrie […] und damit auf eine Zeit des Tastens und Suchens nach den richtigen Behandlungsmethoden, sowohl in theoretischer als auch in
praktischer Hinsicht“ (S. 11).

Nach der Einleitung (S. 15 – 17) gliedert sich der 180 Seiten starke Band, der durch eine Reihe von Schwarzweißabbildungen – darunter neben Bauplänen, Gebäudeansichten und Schriftstücken auch Bilder von Zwangsmitteln (Zwangsjacke, Zwangsstuhl, Zwangskleid, Zwangsgurte, Zwangshandschuhe und einer Onaniebandage für Knaben) aus dem 19. Jahrhundert – illustriert wird, in die folgenden vier Kapitel: „Die Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“
(S. 19 – 34), „Bedingungen und Leben in der Irseer Anstalt“ (S. 35 – 49), „Die Behandlungsmethoden“
(S. 51 – 77) und „Fallbeispiele“ (S. 79 – 111). Die „Schlussbemerkungen“ (S. 113 – 119), Anmerkungen
(S. 121 – 140), Quellen und Literatur (S. 141 – 146) und ein Nachwort („Die Anstalt als Heilmittel und die Entwicklung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert“,
S. 147 – 155) von Maike Rotzoll, außerplanmäßige Professorin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, werden durch einen „Anhang“ (S. 157 – 166) mit einem alphabetischen Personenverzeichnis, einem Verzeichnis psychiatrischer Anstalten in Deutschland und Europa, einer Liste des ärztlichen Personals und der Anstaltslehrer (1849 – 1876) und Publikationslisten von Friedrich Wilhelm Hagen und Michael Kiderle sowie „Dokumente“ (S. 169 – 180), konkret einem Faksimile der Anstaltssatzung von 1850, ergänzt.

Um ein möglichst realistisches, ungeschöntes Bild der Verhältnisse zu bekommen, stützt der Autor sich in seiner Studie neben der Auswertung einschlägiger Publikationen – ausgewählte Werke zur Psychiatriegeschichte aus der jüngeren Zeit und psychiatrische Fachpublikationen des 19. Jahrhunderts, darunter zahlreiche Veröffentlichungen des ersten Ärztlichen Leiters Hagen – insbesondere auf unpublizierte, handschriftliche Jahresberichte und ausgewählte Patientenakten aus dem Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und dem Staatsarchiv Augsburg.

Wie Gerald Dobler in seiner Darstellung zeigt, entsprachen die praktizierten Behandlungsmethoden in Irsee zwischen 1849 und 1876 „prinzipiell dem Stand der deutschen Psychiatrie in dieser Zeit“. Hagen war dabei jedoch viel konservativer als bislang vermutet. Bis zum Ende seiner Amtszeit in Irsee hielt er an traditionellen, aus heutiger Sicht zum Teil sehr grausamen Behandlungsmethoden und Disziplinierungen fest: Abduschen mit kaltem Wasser, die Isolierung in Gitterzimmern und im Tobhaus, diverse Zwangsmittel von Zwangsjacke über Zwangsstuhl bis zum Zwangsbett, oder die Einreibungen mit Brechweinsteinsalbe. Erst Kiderle, so der Autor, führte deutlich humanere Prinzipien ein. So vermied er möglichst körperliche Beschränkungen, das sogenannte „Non-restraint-System“, und verzichtete auch sonst weitestgehend auf Disziplinierungen. Er war es auch, der – seiner Zeit voraus – in Irsee wegweisende Versuche zur Etablierung einer „Irrenkolonie“ unternahm, also zur Beschäftigung der Patient*innen außerhalb der Anstalt und damit auch zu ihrer besseren Integration in die normale Lebenswelt.

Wenngleich die vorliegende Arbeit primär medizinhistorisch orientiert ist, enthält sie dennoch auch einige interessante Hinweise für eine stärker an der Pflegegeschichte interessierte Leserschaft. So finden sich im Abschnitt über die Personalausstattung (S. 44 – 45) neben den Informationen zu den Ärzten auch Angaben über das Pflegepersonal, insbesondere zu dessen Arbeitszeiten und den Verhältniszahlen zu den Patient*innen (S. 47 – 48). Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Feststellungen, dass es zur damaligen Zeit für das Pflegepersonal noch keine reguläre Ausbildung gab, vermögende Patient*innen zum Teil über „Privatwärter“ und „Privatwärterinnen“ verfügten und die „Oberwärter“, bei denen es sich allesamt um „approbierte Bader“ handelte, auch als „Sektionsdiener“ fungierten.

Insgesamt betrachtet gewährt Gerald Dobler mit seinem aktuellen Buch sowohl einen hervorragenden Überblick über die Bandbreite der Behandlungsansätze in der psychiatrischen Anstalt Irsee zwischen 1849 und 1876 als auch berührende Einblicke in Einzelschicksale der damaligen Zeit. Die Veröffentlichung, die eine Forschungslücke zur bayerischen Psychiatriegeschichte schließt, ist dabei umso verdienstvoller, als bisher über das Leben in der Anstalt, den (therapeutischen) Alltag der Patient*innen und vor allem über die Behandlungsmethoden, die dort praktiziert wurden, nur Weniges, eher Allgemeines, bekannt war.

Für den Autor besteht unterdessen kein Zweifel daran, dass viele der berührten Problemfelder der Psychiatrie auch heute und in Zukunft noch aktuell sind: „Der Blick auf die lange vergangenen ersten Jahrzehnte der Anstalt Irsee mit ihrer zumindest auf den ersten Blick zum Teil so altertümlichen und fremden, zum Teil aber auch so nahen und aktuellen Lebenswelt kann uns dabei helfen, unser Bewusstsein für diese Probleme und die damit verbundene Verantwortung zu schärfen und wachzuhalten“ (S. 17). Dieser Einschätzung von Gerald Dobler kann der Rezensent nur zustimmen – und dem Buch eine große Leserschaft wünschen.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling


 

1 Gerald Dobler: Von Irsee nach Kaufbeuren. Die Erweiterungsplanungen der Kreisirrenanstalt Irsee ab 1865 bis zum Neubau der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren 1872. Für das Schwäbische Bildungszentrum Irsee herausgegeben von Stefan Raueiser. Irsee 2013. In: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 4. Jg., Ausgabe 1-2015, S. 58 – 59 (gleichzeitig auch online veröffentlicht unter: www.geschichte-der-pflege.info/datenbanken/buchrezensionen/94065-von-irsee-nach-kaufbeuren-die-erweiterungsplanungen-der-kreisirrenanstalt-irsee-ab-1865-bis-zum-neubau-der-heil-und-pflegeanstalt-kaufbeuren-1872 [17.12.2014] und www.pflege-wissenschaft.info/335-pflegejournal/rezensionen/99541-dobler-warum-irsee [26.05.2015]).

2 Gerald Dobler: Warum Irsee? Die Gründungsgeschichte der Kreis-Irrenanstalt Irsee vom Ende der 1820er Jahre bis zur Eröffnung 1849 und ihr Ausbau bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Für das Schwäbische Bildungszentrum Irsee herausgegeben von Stefan Raueiser. Irsee 2014. In: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 4. Jg., Ausgabe 2-2015, S. 60 – 61 (gleichzeitig auch online veröffentlicht unter: www.pflege-wissenschaft.info/335-pflegejournal/rezensionen/99541-dobler-warum-irsee [01.07.2015]).

3 Vgl. beispielsweise die Arbeiten und entsprechenden Besprechungen des Rezensenten: Magdalene Heuvelmann: „Wer in einer Gottesferne lebt, ist im Stande, jeden Kranken wegzuräumen.“ „Geistliche Quellen“ zu den NS-Krankenmorden in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee. Für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirkstags herausgegeben von Stefan Raueiser und Michael von Cranach (Reihe: Impulse, Band 7). Irsee 2013. In: www.socialnet.de/rezensionen/16412.php [04.04.2014]; Dietmar Schulze: „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord.“ Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee. Für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags herausgegen von Stefan Raueiser und Thomas Düll (Impulse, Band 15). Irsee 2019. In: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 9. Jg., Ausgabe 2-2020, S. 155 – 157; online unter: In: https://www.pflege-wissenschaft.info/rezension_eintrag.php?document_id=12286 [30.09.2020].