Florence Nightingale – Die Frau hinter der Legende

florence nightingale legendeHedwig Herold-Schmidt
Florence Nightingale
Die Frau hinter der Legende

wbg Theiss Verlag, Darmstadt 2020, 320 Seiten, Festeinband, 30,00 €, ISBN 978-3-8062-4055-9

Sie ist nicht nur in ihrem Heimatland England und darüber hinaus in Europa, sondern wahrscheinlich weltweit die berühmteste Krankenschwester aller Zeiten: Florence Nightingale (1820-1910), die als „The Lady with the Lamp“ („Die Dame mit der Lampe“) und „Heldin des Dienstes“ (so der Untertitel eines populären Buches aus dem Jahre 2005), vor allem aber als „Pionierin“ und „Wegbereiterin der modernen Krankenpflege“ in die Geschichtsbücher einging. Mit großer Leidenschaft und Einsatz widmete sie sich in ihrem langen, neunzigjährigen Leben jedoch nicht nur der Krankenpflege, sondern auch einem breiten Spektrum weiterer Themengebiete. So gilt Nightingale als Expertin für alle Fragen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und des Militärsanitätswesens, als international anerkannte Krankenhausreformerin, als Propagandistin für Sozialreformen, als Spezialistin für Kolonialfragen in Indien, als Kämpferin für Frauenrechte und nicht zuletzt als Pionierin der Statistik.
Unterdessen wurden ihre Persönlichkeit und Lebensleistung, die von einer frühen Heroisierung und Mythenbildung geprägt sind, immer wieder hinterfragt und äußerst unterschiedlich bewertet. Während die einen in ihr eine Reformerin und Gesundheitsexpertin sehen, ist sie für andere eine psychisch labile Intrigantin und ihre – durchaus bewunderten – Taten das Produkt von Herrschsucht und unterdrückten sexuellen Trieben. Erweitert wurde dieses Bild gar zu dem einer alleinstehenden, sexuell frustrierten, hypochondrischen und machtbesessenen Intrigantin, deren Leistungen gleichzeitig relativiert oder gänzlich infrage gestellt werden. Von daher stellt sich die Frage, wer war diese sicherlich außergewöhnliche Frau wirklich?

Anlässlich des 200. Geburtstags von Florence Nightingale rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Jahr 2020 als „Jahr der Pflegenden und Hebammen“ aus. Zugleich erschienen im In- und Ausland eine Reihe neuer Biographien über sie, darunter auch das mit einigen Schwarzweißabbildungen illustrierte Buch „Florence Nightingale. Die Frau hinter der Legende“ der Historikerin Hedwig Herold-Schmidt. Die Autorin, die nach dem Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Völkerkunde und Politikwissenschaften in Köln und München 1997 an der Universität München mit einer Arbeit über „Gesundheit und Parlamentarismus in Spanien. Die Politik der Cortes und die öffentliche Gesundheitsfürsorge in der Restaurationszeit (1876-1923)“ promovierte, ist seit 2005 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Kulturgeschichte des Seminars für Volkskunde / Kulturgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig, wobei ihre Forschungsschwerpunkte das 19. und 20. Jahrhundert, Kultur- und Sozialgeschichte von Gesundheit und Krankheit, Adels- und Pressegeschichte sowie Festkulturen und Religiosität in der Moderne sind.

Angesichts der Tatsache, dass nach wie vor „noch häufig fragwürdige Nightingale-Bilder kursieren, die zwischen dem Bild einer Heiligen und dem einer snobistischen (und bisweilen rassistischen) Machtbesessenen aus der britischen Oberschicht changieren“ (S. 9), möchte Hedwig Herold-Schmidt mit der vorliegenden Veröffentlichung (laut Coverangabe) „erstmals ein differenziertes Porträt für deutsche Leser“ entwerfen. Ihr selbst gesetztes Ziel hat sie dabei perfekt umgesetzt, wobei sich ihre Darstellung, im Unterschied zu vielen anderen Veröffentlichungen, nicht nur auf das Wirken der engagierten Britin im Krimkrieg konzentriert, sondern deren gesamtes Leben von der Geburt bis zum Tod im Auge hat.

Gestützt auf eine breite Literatur- und Quellenbasis, darunter die von Lynn McDonald 2001-2012 herausgegebenen sechzehnbändigen „Collected Works“ von Florence Nightingale, erklärt die Autorin das Denken und Handeln von Florence Nightingale frei von Klischees aus ihrer Zeit heraus. Zugleich macht sie unmissverständlich deutlich, dass Florence Nightingale nicht nur die gütige „Lady with the Lamp“ im Kriegslazarett war. Wieder nach Hause zurückgekehrt, setzte sie ihre Bekanntheit Zeit ihres Lebens für Reformen im Gesundheits- und Sanitätswesen ein, trat für Sozialreformen ein und kämpfte für Frauenrechte. Dabei unterschied eine klassische Ausbildung und ihr Interesse für Philosophie und Politik Florence Nightingale, so Hedwig Herold-Schmidt, deutlich von anderen Reformerinnen ihrer Zeit. Demnach habe ihr geschulter Intellekt maßgeblich dazu beigetragen, „dass sie in männlichen Zirkeln, sowohl bei den Unterstützern ihrer Reformprojekte als auch bei deren Gegnern, akzeptiert wurde“ (S. 30).

Gleichwohl brachte sich Florence Nightingale mit ihrem Engagement nicht nur Freunde ein. Auf dementsprechend in der Literatur verbreitete Vermutungen und Mutmaßungen lässt sich die Autorin jedoch nicht ein. Vielmehr erteilt sie solchen eine klare Absage, wenn sie – wie beispielsweise im Kapitel über „Das Ringen um ein sinnvolles Leben (1839-1847)“ – schreibt: „Über Nightingales Gefühlsleben, ihre ‚Weiblichkeit‘, über ihr Verhältnis zu Männern und Frauen und ihre sexuelle Orientierung kursieren viele (oft unfundierte) Spekulationen. Diese sollten hier nicht weiter vermehrt werden, da angesichts der Quellenlage viele Fragen ohnehin kaum geklärt werden können“ (S. 62).

Ebenso weist Hedwig Herold-Schmidt an anderer Stelle darauf hin, dass sich jüngere Studien und Biographien zwar um eine Würdigung von Nightingales Leistungen bemühen, allgemeine historische Werke zum Krimkrieg jedoch häufig abwertende Urteile ohne neue Prüfung der Quellen übernommen hätten, wobei auch deutsche Publikationen keine Ausnahmen seien. Viele der gegen Nightingale erhobenen Vorwürfe würden sich „entkräften, wenn man sie in ihrem historischen Kontext interpretiert“ (S. 131). Schließlich rät die Autorin, konkret bei ihren Ausführungen zu Nightingales Einstellungen zur Frauenemanzipation, zur Erweiterung der Frauenrechte, insbesondere des Wahlrechts, „sich vor plakativen Zuschreibungen zu hüten – und vor aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten sowieso“ (S. 251).

Indem Hedwig Herold-Schmidt stattdessen Lob und Kritik an dieser kontroversen und vielschichtigen Persönlichkeit in Bezug zu den Möglichkeiten und Grenzen für Frauen im 19. Jahrhundert gesetzt hat, ist ihr eine fesselnde Biografie gelungen, in der interessante Anekdoten mit einem spannenden Gesellschaftsportrait verbunden sind. Im Ergebnis präsentiert sie so ein faszinierendes Lesevergnügen über die Geschichte einer Frau, die oft mit den Beschränkungen ihrer Zeit kämpfte.

Im Hinblick auf Bedeutung von Florence Nightingale für die Krankenpflege vertritt die Autorin eine klare Position. Während ihre Leistungen im Krimkrieg im 19. Jahrhundert „stark übertrieben und im späten 20. Jahrhundert zu sehr kleingeredet wurden“ (S. 128), sei sie – trotz aller notwendigen Nuancierungen – „für die Entwicklung der Krankenpflege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von überragender Bedeutung“ gewesen: „Inwieweit und in welcher Weise dabei empirisch fassbare Daten mit ihrem Ruf – wenn man will, mit ihrer ‚Legende‘ – verflochten waren, lässt sich wohl nie genau bestimmen. Am Ende des Jahrhunderts war Pflege jedenfalls zu einem hochgeschätzten und beliebten weiblichen Beruf geworden, der auch Frauen der ‚besseren‘ Kreise anzog. Nightingales Prestige und Integrität waren dafür ein wesentlicher Faktor“ (S. 272).

Dank ihrer differenzierten Betrachtung und ausgewogenen Darstellung wird die von Hedwig Herold-Schmidt vorgelegte Biographie über Florence Nightingale in der pflegewissenschaftlichen Literatur ihren festen Platz finden. Darüber hinaus kann das kurzweilig zu lesende Buch aber auch allen zur Lektüre wärmstens empfohlen werden, die jenseits der Krankenpflege in das Leben einer wohlhabenden, intellektuell aufgeschlossenen, sozialreformerisch aktiven sowie politisch einflussreichen viktorianischen Familie eintauchen wollen.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling