Zwischen Liebesdienst und Broterwerb

Bildschirmfoto 2022 02 07 um 11.00 KopieZwischen Liebesdienst und Broterwerb

Von der selbstlosen Krankenschwester im 19. Jahrhundert zur engagierten Pflegefachfrau von heute: eine kleine Sozialgeschichte vor der Abstimmung über die Pflegeinitiative. 

Die Krankenpflege als Frauentätigkeit war bis weit ins 20. Jahrhundert von Abhängigkeit, Ausbeutung und Unsichtbarkeit geprägt. Ein Weg, der so nicht zwingend vorgezeichnet war. Noch im 19.  Jahrhundert umfasste die Gesundheitsversorgung ein breites Feld ohne klare berufliche Abgrenzungen. Pflegekenntnisse und -praktiken wurden mündlich und durch Erfahrung am Krankenbett gelernt und weitergegeben. Und zwar zum einen von Angehörigen christlich-religiöser Gemeinschaften, den Kranken-«Schwestern» (und -«Brüdern»), zum andern von Frauen und Männern aus der Unterschicht, den sogenannten Kranken-«Wärter:innen». Letztere übten die Pflege als Erwerbsarbeit aus und verdienten so ihren Lebensunterhalt, während Erstere die Pflege als «christlichen Liebesdienst» betrachteten und dafür lediglich ein Taschengeld vom Mutterhaus erhielten, sich ansonsten aber zu Armut und Keuschheit verpflichteten.

Die Durchsetzung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im 19.  Jahrhundert führte dazu, dass sich die den Männern vorbehaltene ärztliche Tätigkeit zur gut bezahlten Profession entwickelte. Die Krankenpflege hingegen wurde zum medizinischen Hilfsberuf für Frauen abgewertet. Lohn, Arbeitszeit, Ferien und soziale Absicherung waren kaum geregelt; Fragen der Karriereplanung waren in einem Hilfs- und Frauenberuf tabu.

Der Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) versuchte ab 1908 zwar, die Wärter:innen gewerkschaftlich zu organisieren und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dem widersetzte sich aber das Bürgertum, indem es auf die christlich-religiösen Wurzeln rekurrierte und die Pflege für Frauen aus der Mittelschicht konzipierte und ihr – ähnlich wie bei der Hausarbeit – den Charakter der Arbeit aberkannte. Wie von der Hausfrau und Mutter wurden von der Krankenpflegerin ein persönliches Engagement erwartet, sowie die Bereitschaft, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Durch das obligatorische Internat und das damit einhergehende Zölibat war sie total verfügbar. Die rigide Anstaltsdisziplin beeinflusste und bestimmte alle Lebensbereiche.

Auf institutioneller Ebene bildeten sich zwei Ausbildungseinrichtungen heraus. Die Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich, 1901 vom Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein gegründet, stand unter der Leitung der Ärztin Anna Heer (1863–1918) und der Oberin Ida Schneider (1869–1968). Am Lindenhofspital in Bern eröffnete das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) 1899 die Rotkreuz-Pflegerinnenschule und übertrug dem Arzt Walter Sahli (1860–1916) die Leitung.

Prekäre Arbeitsbedingungen

Das SRK, das im Kriegsfall die Verwundetenpflege sicherzustellen hatte, wurde vom Bund 1903 zur Überwachungsinstanz der Pflegeberufe bestimmt. Damit erhielt es die zentrale Rolle in der Pflegeentwicklung, die erst 1976 mit der Vereinbarung zwischen den Kantonen und dem SRK rechtlich legitimiert wurde. An Bundessubventionen gelangten Pflegeschulen nur über das SRK – sofern sie dessen Ausbildungsrichtlinien genügten und sich verpflichteten, im Kriegsfall dem Militärsanitätsdienst Personal zur Verfügung zu stellen. Dies geschah im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Den 1910 gegründeten Pflegeberufsverband präsidierte Anna Heer, während Walter Sahli als Vizepräsident und Redaktor der Verbandszeitschrift waltete. Damit sassen Vertreter:innen der Ärzteschaft an den entscheidenden Schalthebeln des Pflegeberufs. Sie beeinflussten die berufspolitische Entwicklung, die Aus- und Weiterbildung sowie das Berufsbild der Pflege.

Die Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege waren prekär: lange Dienstzeiten, niedrige Löhne, höchstens ein freier Tag pro Woche, wenig Ferien, kaum soziale Absicherung, Internat und Zölibat. Trotzdem internalisierten auch die freien Krankenschwestern die im religiösen «Schwesterntum» kultivierten Werte der Aufopferung, Geduld und Hingabe. Im Unterschied zu religiös gebundenen Schwestern konnten sie zwar nicht die materielle Unsicherheit durch den Schutz eines Mutterhauses abfedern, dafür aber am Nimbus der selbstlosen Schwester teilhaben. Weil sie mit der Schwesterntracht im Ausgang erkennbar waren, erhielten sie wie die Ordensschwestern Vergünstigungen, wenn auch eher symbolische: freie Fahrkarten bei der Bahn, Rabatte in Läden oder einen freien Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Das Schwesternideal des «Engels in Weiss» hatte eine Kehrseite: Der Gesundheitszustand zahlreicher Pflegepersonen war schlecht. Physische und psychische Überforderung führten zu andauernder Erschöpfung. Das setzte ihre Widerstandsfähigkeit gegen Infektionskrankheiten herab und erhöhte die Gefahr von Unfällen. Besonders Tuberkulose war unter Krankenschwestern weitverbreitet. Auch die Spanische Grippe traf viele von ihnen. Zum gravierenden Problem wuchsen sich Suchterkrankungen aus, insbesondere der Missbrauch von Morphium, mit dem einzelne Pflegende versuchten, dem unmenschlichen Leistungsdruck zu begegnen, und dabei in eine Spirale der Abhängigkeit gerieten.

«Schwesternmangel»

Trotzdem reagierten die Pflegepersonen zurückhaltend auf Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Nachdem sich die Industriearbeiterschaft als Folge des Generalstreiks von 1918 die 48-Stunden-Woche erkämpft hatte, fand in der Verbandszeitschrift zwar eine Debatte um den Achtstundentag in der Pflege statt. Die Einsenderinnen sprachen sich aber mehrheitlich dagegen aus und betonten, dass die Pflege weder mit Fabrikarbeit noch einem Gewerbe zu vergleichen sei, da sie nicht an Maschinen oder «an totem Material» verrichtet werde. Sie wollten den Pflegedienst nicht mit einem «Broterwerb» gleichsetzen, den man in starre Arbeitszeiten zwängen könne. Es war verpönt, «diesen Beruf bloss um der Lebensexistenz willen» zu wählen. Die «Krankenbettlaborantin» galt den idealistischen Vertreter:innen dieses Berufs als Schreckgespenst.

Doch es gab auch Zuschriften, die eine massvolle Arbeitszeitverkürzung als sinnvoll erachteten. So prangerte eine Wiener Spitaloberin die Missstände in den Spitälern mit drastischen Worten an: «Verbrechen an der Natur», «Ausbeutung des Idealismus», «Martyrium von jungen Krankenpflegerinnen». Die Überarbeitung sei «eines freien Menschentums unwürdig», Pflegerinnen würden durch die «Überanstrengung zugrunde gerichtet». Doch das Berufsbild der selbstlosen Schwester erschwerte es den Pflegenden, sich für eigene berufspolitische Interessen einzusetzen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs machte sich erstmals ein Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal bemerkbar – auch wegen der Arbeitsbedingungen, die junge Frauen abschreckten. Ihnen standen inzwischen attraktive Berufe im kaufmännischen und Kommunikationsbereich oder als Stewardess offen. Als Massnahme gegen den «Schwesternmangel» erliess der Bundesrat 1947 den «Normalarbeitsvertrag für das Pflegepersonal (Schwestern und Pfleger)». Dieser hatte zwar keinen bindenden Charakter, doch er war ein erster Schritt zur Angleichung der Arbeitsbedingungen unter Gemeinde-, Spital- und Privatschwestern und legte die 60-Stunden-Woche fest. Nach einer vierjährigen Übergangsfrist waren in Ausnahmesituationen immer noch 66 Stunden erlaubt. Erst die dritte Revision, die 1972 in Kraft gesetzt wurde, brachte die 48-Stunden-Woche.

Zu einem eigenständigen Beruf entwickelte sich die Pflege in der Schweiz erst mit dem Einfluss von internationalen Organisationen wie dem 1899 gegründeten International Council of Nurses (ICN). Der ICN nahm nur nationale Berufsverbände auf, wenn sie von Pflegepersonen geleitet wurden und die Verbandsmitglieder ein staatlich anerkanntes Berufsdiplom besassen. Der Schweizerische Krankenpflegebund erfüllte keines dieser Kriterien, weshalb zahlreiche Mitglieder, die für eine Aufwertung ihres Berufs kämpften, austraten und den Verband der Diplomierten Krankenschwestern und Krankenpfleger gründeten, der 1937 in den ICN aufgenommen wurde.

Erste Forschungsprojekte

Um die verbandspolitische Doppelspurigkeit in der kleinen Schweiz zu beenden, fusionierten die beiden Verbände 1945 zum Schweizerischen Verband Diplomierter Krankenschwestern und Krankenpfleger, präsidiert von Monika Wuest. Der heutige SBK entstand 1978 als Zusammenschluss der drei Berufsverbände der Kranken- und der Psychiatrie- sowie der Kinder-, Wochen- und Säuglingspflege.

Eine wichtige Rolle in der Professionalisierung des Pflegeberufs spielte auch die 1948 gegründete Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Sitz in Genf. Um dem in vielen Ländern herrschenden Personalmangel abzuhelfen, unterstützte sie Bestrebungen, den Beruf aufzuwerten. Sie vergab Stipendien, um Schweizer Krankenschwestern ein Studium an ausländischen Universitäten zu ermöglichen und sie auf leitende Stellen vorzubereiten. Zudem finanzierte sie erste Forschungsprojekte zur Pflege in der Schweiz. In den USA und in Grossbritannien lernten die Stipendiatinnen neue Pflegetheorien kennen. Die letztes Jahr verstorbene Liliane Juchli (1933–2020) adaptierte in ihrem äusserst erfolgreichen Lehrbuch diese Grundprinzipien der Pflege auf den deutschsprachigen Raum und schuf so den «Juchli-Standard».

Bye-bye «Krankenschwester»!

Zu einem politischen Aufbruch kam es in der Pflege erst im Zuge der 68er-Bewegung und der Annahme des Stimm- und Wahlrechts für Frauen 1971. Man wollte nicht länger «der Beruf des Schweigens» sein, sondern mitreden und auch mitbestimmen, wenn es um Sparmassnahmen im Gesundheitswesen ging, wenn Personalabbau in Spitälern drohte oder pflegespezifische Themen auf der Agenda standen. Pflegearbeit musste sichtbar werden, die grosse Gruppe der Pflegenden durfte nicht länger von Entscheidungsgremien ausgeschlossen bleiben.

In der «Spitalbewegung» Ende der achtziger Jahre erhob eine junge Generation von Pflegepersonen berufs-, sozial- und frauenpolitische Forderungen wie Lohnerhöhungen, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, Freizeitgutschriften für belastende Arbeitszeiten, höhere Nacht-, Wochenend- und Pikettdienstzulagen sowie weitere Arbeitszeitverkürzungen. Sie waren nicht mehr bereit, auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit andere zu pflegen.

Um die Qualität der Pflege zu gewährleisten, erhielten sowohl Aus- und Weiterbildung als auch die Forschung ein grosses Gewicht. Mehrere Bildungsreformen führten schliesslich zur Integration ins Berufsbildungsgesetz, das 2004 in Kraft trat. Damit waren auch die Pflegeberufe staatlich reglementiert und anerkannt. Mittlerweile bieten Universitäten und Fachhochschulen Studiengänge zur Pflege an.

Die Professionalisierung hat zu einer neuen und adäquateren Berufsbezeichnung geführt: Die «Pflegefachfrau» und der «Pflegefachmann» haben den Begriff der «Krankenschwester» abgelöst und den Beruf so vom historisch belasteten Ideal, sich aufzuopfern und sich ausbeuten zu lassen, befreit. Damit sich Pflegepersonen auch künftig mit Fachwissen und Empathie für die ihnen anvertrauten Kranken einsetzen können, muss weiter in eine gute Ausbildung investiert und die Arbeitssituation verbessert werden.


Über die Autorin: Sabine Braunschweig ist Historikerin und Erwachsenenbildnerin im Büro für Sozialgeschichte in Basel und hat mehrfach zur Pflegegeschichte publiziert.

Foto: Schwester und Patientin im Zürcher Frauenspital um 1925 (H. FROEBEL, GOSTELI-STIFTUNG)

Originalartikel: https://www.woz.ch/-bfd5